Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
antworten? Manchmal passen nicht einmal Gemeinplätze.
Erst in Alabama lasse ich »Katrina« endlich hinter mir. Zwar hat der Wirbelsturm auch hier gewütet, aber auf der kurzen Strecke, die ich in diesem Staat zurücklege, kann ich davon nichts mehr erkennen. Irgendwo hier, der genaue Ort lässt sich schwer bestimmen, kommt mir mein Reisegefährte abhanden. John Steinbeck ist in den Südstaaten mehrfach Zeuge von aggressivem, sogar gewaltbereitem Rassismus geworden – unter anderem war er Zeuge, wie in New Orleans eine johlende, brüllende Menschenmenge gegen die Einschulung schwarzer Kinder in eine bis dahin nur Weißen vorbehaltene Schule demonstrierte. »Bestialisch, unflätig, absolut widerlich«, seien die Worte gewesen, die dabei gebrüllt wurden. »Hier gab es noch etwas viel Schlimmeres als Schmutz, nämlich eine erschreckende Art von Hexensabbat.«
Steinbeck hat spätestens danach die Lust an seiner Unternehmung verloren. »Manche Reisen gehen noch lange weiter, nachdem die Bewegung in Zeit und Raum aufgehört hat«, schrieb er. »Meine Reise hatte lange vor meiner Abfahrt begonnen und war vorbei, bevor ich zurückkam.« Der Dichter selbst verlegt den Ort, an dem er endgültig nur noch nach Hause wollte, ins südliche Virginia – aber da hatte er Florida, Georgia und die Carolinas ja schon ausgelassen und war stattdessen von Alabama aus durch den Binnenstaat Tennessee gefahren, ohne ihm allerdings einen Blick zu schenken. »Ich jagte Rosinante auf den großen breiten gebührenpflichtigen Super-Highway.« Bis New York hielt er nur noch zum Schlafen an.
Ekel und wohl auch Heimweh haben Steinbeck seinen Plan aufgeben lassen, die USA gemächlich zu umrunden. »Was als hochgemute, von Neugier und Anteilnahme getriebene Erkundungsreise begonnen hatte, wird gegen Ende immer mehr zu einer schaudernden Abwendung, fast einer Flucht«, schreibt Burkhart Kroeber, Übersetzer der deutschen Ausgabe, in einem Nachwort.
Was würde John Steinbeck empfinden, wenn er heute die Südstaaten bereiste? Wäre er verbittert und resigniert, weil gerade in diesen Wochen heftig über Ursachen und Bedeutung eines Vorfalls diskutiert wird, der an die Zeit vor der Bürgerrechtsbewegung erinnert? Schwarze Jugendliche wollten sich in der Kleinstadt Jena in Louisiana unter einen Baum setzen, den weiße Jugendliche für sich reklamierten. Am folgenden Tag hingen an dem Baum drei Galgenschlingen.
Sähe Steinbeck darin einen Beleg dafür, dass sich im Laufe eines halben Jahrhunderts an der Geisteshaltung der Privilegierten nur wenig geändert hat? Oder wäre er froh, dass heute wenigstens offen über einen solchen Vorfall geredet wird – und an dem Entsetzen einer großen Mehrheit der Bevölkerung kein Zweifel bestehen kann? Hielte er vielleicht das Ganze für Muskelspiele von Halbstarken, und wäre er der Ansicht, es gäbe Wichtigeres zu erörtern? Zum Beispiel: Dass das Vermögen der durchschnittlichen weißen Familie noch immer achtmal größer ist als das der schwarzen Durchschnittsfamilie. Dass 30 Prozent aller schwarzen Kinder ein Leben unterhalb der regierungsamtlich festgesetzten Armutsgrenze fristen. Dass jeder zehnte junge Schwarze im Gefängnis sitzt – aber nur ein Prozent der Gesamtbevölkerung. Dass jedoch andererseits mit der Minderheitenquote durchaus gezielt versucht wird, die Chancen nichtweißer Bürger zu verbessern.
Wie lange trägt ein Land am historischen Erbe? Die Frage stellt sich wieder und wieder. Sie ist nicht nur abstrakt schwer zu beantworten, sondern auch konkret: weil das, was den einen als Fortschritt erscheint, anderen als Beweis für reaktionäre Gesinnung dient. Im prächtigen, alten Oakleigh-Herrenhaus in Mobile komme ich ins Gespräch mit Melanie New. Die 36-jährige sanfte, freundliche Frau trägt einen langen, schwingenden Rock, eine hochgeschlossene weiße Bluse und eine Gemme am Hals: Kleidung des 19. Jahrhunderts. So führt sie Besuchergruppen durch das alte Gebäude und erzählt vom Leben der ehemaligen Bewohner und der Vergangenheit der Stadt.
Jeden ersten Samstag im Monat arbeitet Melanie hier. Ehrenamtlich. Einfach deshalb, weil sie sich so sehr für Geschichte interessiert. »Schon in meiner Kindheit gab es für mich nichts Schöneres, als meiner Großmutter zuzuhören, wenn sie von früher erzählte.« Im bürgerlichen Leben ist Melanie New als leitende Angestellte bei einem Kreditunternehmen beschäftigt – die einzige Weiße in diesem Büro. »Da höre ich natürlich Sachen.« Was
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