Auf der Suche nach dem Auge von Naga: Roman (German Edition)
da oben auf der Anhöhe vor sich«, sagte Wells.
Burton richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den entfernten Wald. Er runzelte die Stirn und brummte: »Ist mein Gefühl für Perspektive durcheinandergeraten?«
»Nein«, antwortete Wells. »Diese Bäume sind gigantisch.«
Außerdem wogten sie im zunehmenden Wind hin und her.
»Das fühlt sich ganz und gar nicht natürlich an«, befand Burton.
»Du hast recht. Ich glaube, da sind deutsche Wetterwirker am Werk. Wir sollten uns bereithalten, dem Hauptquartier Meldung zu erstatten.«
»Hauptquartier? Bist du jetzt beim Heer, Bertie?«
»Du etwa nicht? Du trägst eine Uniform.«
»Meine anderen Kleider sind mir am Leib verrottet …«
In der Nähe explodierte eine weitere Erbse. Ein Splitter prallte scheppernd von Burtons Helm ab.
»… und die hier hat man mir im Feldlazarett gegeben. Niemand hat mich offiziell zum Dienst eingezogen. Ich glaube, man hält mich bloß ganz allgemein für einen Soldaten.«
»Ja, so chaotisch geht es bei uns zu.« Wells seufzte. »Mittlerweile ist jeder Soldat, so verzweifelt ist die Lage geworden. Es gibt auf der ganzen Welt keinen britischen Zivilisten mehr. Und mit sofortiger Wirkung ernenne ich dich zu meinem Stellvertreter. Dein Vorgänger, der Gefreite Michaels«, Wells deutete auf die halb im Wasser versunkene Leiche, die Burton zuvor am Rande wahrgenommen hatte, »hat den Kopf über die Sandsäcke gesteckt, der Dämlack. Er wurde von einem Scharfschützen getroffen. Mach bloß nicht denselben Fehler. Geh zum Funk rüber.«
Burton schaute zu dem Apparat auf dem Tisch. »Funk? Ich … äh … ich weiß nicht, wie das geht.«
»Du bist seit zwei Jahren hier und kannst immer noch kein verdammtes Funkgerät bedienen?«
»Ich bin …«
Er wurde von einem Pfeifen unterbrochen, das überall entlang der Schützengräben an der Front ertönte.
»Es geht los!«, rief Wells. »Unsere Jungs greifen an!«
Links und rechts vom Horchposten kletterten Askaris, zwischen denen einige weiße Gesichter hervorstachen, aus den wassergesättigten Gräben und bewegten sich hinter den vorrückenden Weberknechten her über den schmalen Streifen Niemandsland. Sie liefen tief geduckt und hielten Gewehre mit Bajonetten in den Händen. Samen aus den gegnerischen Schützengräben zischten durch die Luft. Köpfe von Männern wurden zurückgeschleudert; ihre Glieder wurden weggefetzt, ihre Bäuche aufgerissen. Wo sie zu Boden sanken, rückten andere nach. Erbsen sausten aus dem Himmel herab und schlugen im Schlamm zwischen den Reihen ein. Sie explodierten, zerfetzten Männer und sprengten Körperteile hoch in die Luft. Doch unbeirrt rückten die britischen Truppen vor.
»Bismillah!«, flüsterte Burton angesichts des Blutbads, das um ihn her wütete.
»Schau!«, rief Wells und deutete zu der Anhöhe. »Was zur Hölle ist das?«
Burton drehte sein Periskop und beobachtete, wie eine dichte grüne Masse von den Bäumen emporbrodelte. Vom Wind getragen wogte sie den Hang herab und zog hoch über die deutschen Schützengräben hinweg. Als sie sich näherte, erkannte er, dass sie aus rotierenden Ahornsamen bestand. Als einer davon das Bein eines Weberknechts traf, wurde Burton die gewaltige Größe der Samen bewusst – mindestens dreieinhalb Meter im Durchmesser. Der Same prallte nicht bloß gegen das Spinnenbein, seine Flügel schnitten durch das Bein hindurch. Die Samen waren so fest und scharf wie Krummschwerter. Voller Grauen beobachtete Burton, wie Abertausende der wirbelnden Samen die hoch aufragenden Kriegsmaschinen erfassten, die langen dünnen Beine durchtrennten, in die ovalen Körper einschlugen und die Fahrer enthaupteten. Als die Weberknechte unter dem Ansturm zu Boden gingen, flogen die Samen weiter auf die vorrückenden Soldaten zu.
»In Deckung!«, gellte Wells.
Burton und der Kriegsberichterstatter sanken im schmutzigen Wasser auf die Knie und pressten sich gegen die vordere Wand der Beobachtungsgrube. Acht Ahornsamen schnellten über ihnen durch die Luft und schlugen dröhnend in den rückwärtigen Teil des Lochs in der Erde. Ein neunter Samen schnitt den Leichnam des Gefreiten Michaels entzwei. Über ihnen raste eine grüne Wolke dahin und pflügte in die Schützengräben an der Front.
Dann legte sich der Wind. Burton schaute zum Himmel. Die Regenwolken waren nur noch lichte Fetzen und lösten sich rasch auf. Dazwischen schien die sengende Sonne auf das Gemetzel. Als Burton aufstand, wieder auf die Kiste kletterte
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