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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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anhob, um sich bequemer über den Stich beugen zu können, auf den sie mit geneigtem Kopf ihren, wenn er sich nicht belebte, so müden und verdrossenen Blick richtete, da fiel es Swann plötzlich auf, daß sie auf frappante Weise der Gestalt Sephoras, der Tochter Jethros auf einer der Fresken in der Sixtinischen Kapelle glich. 1 Swann hatte schon immer die Neigung gehabt, in den Bildern der großen Meister nicht nur in allgemeinen Zügen die uns umgebende Wirklichkeit wiederzuerkennen, sondern auch gerade das, was am wenigsten allgemein zu sein scheint, nämlich die individuellen Züge der ihm bekannten Gesichter: so in einer Bildnisbüste des Dogen Pietro Loredan von Antonio Rizzo 2 die vorspringenden Backenknochen, die schräg gestellten Brauen, kurz das schlagende Abbild seines Kutschers Rémi; mit den Farben Ghirlandaios fand er die Nase des Monsieur de Palancy 3 dargestellt, in einem Porträt Tintorettos 4 das Vordringen der ersten Backenbarthaare in die füllige Wange, dann die gequetschte Nase, den durchdringenden Blick, die verschwollenen Lider des Doktors du Boulbon. Vielleicht war es so, daß er im Grunde immer irgendwie bedauert hatte, sein Leben ganz auf das Gesellschaftliche und die Konversation beschränkt zu haben, und nun eine Art Ablaß von seiten der großen Künstler in der Tatsache fand, daß auch sie Gesichter mit Vergnügen betrachtet und in ihr Werk aufgenommen hatten, die diesem ein besonderes Attest von Wirklichkeit und Leben und den Reiz des Modernen geben; vielleicht aber hatte er sich auch so sehr von der Frivolität der mondänen Kreise erfassen lassen, daß er das Bedürfnis verspürte, in einem alten Kunstwerk solche vorgreifenden und verjüngenden Anspielungen auf ganz bestimmte Persönlichkeiten unserer Tage zuerkennen. Oder aber er hatte vielleicht so weit die Künstlernatur in sich bewahrt, daß individuelle charakteristische Züge ihm um so größeres Vergnügen bereiteten, wenn sie eine allgemeinere Bedeutung bekamen, sobald er sie nämlich isoliert, von allen Voraussetzungen befreit in der Ähnlichkeit eines älteren Bildniswerkes mit einem Original erkannte, das es gar nicht darstellte. Wie dem auch sei, und vielleicht gerade weil die Fülle der Eindrücke, von denen er seit einiger Zeit bewegt wurde, eine Fülle, die ihm aber eher aus der Liebe zur Musik erwachsen war, sogar seine Neigung zur Malerei neu belebt hatte, war sein Vergnügen tiefer, und es sollte auf Swann einen nachhaltigen Einfluß ausüben, das Vergnügen, das er in diesem Augenblick in der Ähnlichkeit Odettes mit der Sephora jenes Sandro di Mariano fand, dem man eher seinen geläufigen Beinamen Botticelli gibt, seit dieser an Stelle des wahren Werkes dieses Malers die banale und falsche Vorstellung, die man sich gemeinhin von ihm macht, heraufbeschwört. Er schätzte jetzt Odettes Gesicht nicht mehr nach der mehr oder weniger guten Beschaffenheit ihrer Wangen und nach der rein fleischlichen Weichheit ein, die er, wenn er sie mit seinen Lippen berührte, spüren zu müssen annahm, falls er es überhaupt je wagen sollte, sie zu küssen, sondern als ein meisterhaft geführtes, schönes Linienwerk, dem seine Blicke folgten, indem sie seine verwickelten Kurven von der Neigung des Nackens bis zum Ansatz des fließenden Haares und der Wölbung der Augenlider begleiteten wie in einem Porträt von ihr, das ihren Typus erst klar und verständlich herausgestellt hätte.
    Er betrachtete sie; ein Freskenfragment bot sich in ihrem Antlitz und ihrem Körper dar, das er von da an immer darin wiederzuerkennen suchte, wenn er bei Odette war oder wenn er auch nur an sie dachte, und obwohl er auf das florentinische Meisterwerk zweifellosnur solchen Wert legte, weil er es in ihr wiederfand, so übertrug doch diese Ähnlichkeit auch auf sie eine besondere Schönheit und ließ sie noch kostbarer erscheinen. Swann machte sich Vorwürfe, den Rang eines Wesens verkannt zu haben, das dem großen Sandro anbetungswürdig erschienen wäre, und er beglückwünschte sich, daß das Vergnügen, das er bei Odettes Anblick empfand, in seiner eigenen ästhetischen Bildung eine Rechtfertigung fand. Er sagte sich, daß er, indem er Odette mit seinen Träumen von Glück assoziierte, sich nicht mit einem so unvollkommenen Notbehelf abfand, wie er zunächst gemeint hatte, da diese Ideenverbindung seinen raff iniertesten Kunstansprüchen entgegenkam. Er vergaß dabei, daß Odette dadurch keineswegs zu einer Frau wurde, die seinem Verlangen eher

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