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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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vermutlich nicht deswegen, weil dieser Herr sie für ›tugendhaft‹ hält«, setzte Monsieur Verdurin in ironischem Tonfall hinzu. »Freilich kann man nie wissen, denn offenbar glaubt er, sie sei intelligent. Ich weiß nicht, ob du den Vortrag gehört hast, den er ihr neulich abend über die Sonate von Vinteuil gehalten hat; ich habe Odette wirklich riesig gern, aber um mit ihr einen Gedankenaustausch über ästhetische Theorien zu pflegen, muß man schon ein ausgemachter Gimpel sein!«
    »Geh, sprich nicht so bös von Odette«, sagte Madame Verdurin in ihrem Kinderton. »Sie ist eine reizende Person.«
    »Das hindert sie doch nicht daran, reizend zu sein; wir sagen doch auch nichts Böses von ihr, wir stellen nur fest, daß Tugend und Geist nicht ihre Stärke sind. Was meinen Sie«, fragte er, zu dem Maler gewendet, »legen Sie so großen Wert darauf, daß sie tugendhaft ist? Sie wäre dann vielleicht sehr viel weniger reizend, wer weiß?«
    Auf dem Wohnungsvorplatz war Swann von dem Diener eingeholt worden, der im Augenblick seines Kommens nicht dagewesen war und den Odette für den Fall, daß er doch noch käme, beauftragt hatte, ihm zusagen – doch das war nun schon eine gute Stunde her –, sie werde wahrscheinlich noch, bevor sie nach Hause gehe, bei Prévost 1 eine Schokolade trinken. Swann eilte zu Prévost, doch sein Wagen wurde auf Schritt und Tritt durch andere Gefährte oder durch Passanten aufgehalten, in denen er nur widerwärtige Hindernisse sah, die er mit Vergnügen umgefahren hätte, wenn ihn der protokollierende Polizist nicht noch mehr aufgehalten hätte als der die Straße überquerende Fußgänger. Er errechnete, wie lange er brauchen würde, und fügte vorsichtshalber zu jeder Minute ein paar Sekunden hinzu, um ja nicht zu wenig angesetzt zu haben und etwa seine Chance, rechtzeitig hinzukommen und Odette noch zu treffen, für größer zu halten, als sie in Wirklichkeit war. Wie ein Fieberkranker, der geschlafen hat und sich plötzlich über die Sinnlosigkeit seiner Traumvorstellungen klar wird, in denen er sich zuvor bewegte, ohne sich davon lösen zu können, stellte Swann mit einem Male die Seltsamkeit seiner Gedankengänge seit jenem Augenblick fest, als er bei den Verdurins erfahren hatte, Odette sei schon aufgebrochen, dazu die völlige Neuheit des Schmerzes, den er empfand, aber gleichwohl nur wie ein Erwachender sachlich konstatierte. Wie? Diese ganze Aufregung deswegen, weil er Odette erst morgen wiedersehen würde, das heißt, weil gerade das eingetreten war, was er noch vor einer Stunde gewünscht hatte, als er zu Madame Verdurin fuhr! Er mußte wohl oder übel feststellen, daß in diesem gleichen Wagen, der ihn jetzt zu Prévost trug, er selbst nicht mehr der gleiche war, nicht mehr allein, sondern von einem neuen Wesen begleitet, das ihm anhing, mit ihm verschmolz, von dem er sich nicht mehr freimachen konnte und mit dem er so behutsam umgehen mußte wie mit einem Gebieter oder einem Leiden. Und dennoch kam ihm seit dem Augenblick, da er das Gefühl hatte, eineandere Person sei zu ihm hinzugetreten, sein Leben interessanter vor. Er malte sich kaum noch aus, daß diese eventuelle Begegnung bei Prévost (deren Erwartung die ihr vorausgehenden Minuten derartig von allem entblößte und entleerte, daß er keinen Gedanken und keine Erinnerung mehr fand, in denen er seinen Geist ausruhen lassen konnte), wenn sie zustande käme, genau wie die anderen sein würde, nämlich eigentlich nichts Besonderes. Wie jeden Abend, wenn er, sobald er Odette gegenübertrat, auf ihr wechselndes Gesicht einen Blick warf, den er gleich wieder abwendete aus Angst, sie könne darin etwas wie eine Aufforderung sehen und nicht mehr an seine Selbstlosigkeit glauben, würde er sogleich aufhören, an sie zu denken, zu sehr damit beschäftigt, Vorwände zu erfinden, damit er sie nicht so bald verlassen müsse, und sich, ohne anscheinend besonderen Wert darauf zu legen, die Gewißheit zu verschaffen, daß sie am folgenden Tag bei den Verdurins sein würde: das heißt die Enttäuschung und die Marter, die für ihn die vergebliche Gegenwart dieser Frau bedeutete, der er sich näherte, ohne daß er doch wagte, sie in die Arme zu nehmen, für den Augenblick zu verlängern und einen weiteren Tag von neuem zu ertragen.
    Bei Prévost war sie nicht: er wollte alle Restaurants an den Boulevards absuchen. Um Zeit zu gewinnen, schickte er, während er die einen übernahm, seinen Kutscher Rémi (den Dogen Loredan von Rizzo)

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