Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
nichts weiter als zu glauben, er werde nicht etwa eines Tages aufhören, sie zu sehen. Was für ein reizvolles Milieu, sagte er sich. Im Grunde führt man dort das einzig wahre Leben! Wieviel geistreicher, wieviel kunstverständiger geht es dort zu als in der großen Welt! Wie aufrichtig ist bei all ihren kleinen, etwas lächerlichen Übertreibungen diese Madame Verdurin in ihrer Liebe zur Malerei, zur Musik! Welche Leidenschaft für die Werke der Künstler und welch Bemühen, ihnen selbst angenehm zu sein! Sie hat eine falsche Vorstellung von der »feinen« Gesellschaft, aber wieviel unrichtiger noch stellt die »feine« Gesellschaft sich die Künstlerkreise vor! Vielleicht sind meine geistigen Ansprüche im Gespräch nicht sonderlich groß, aber ich unterhalte mich wirklich sehr gern mit Doktor Cottard, wenn er auch dumme Kalauer macht. Und was diesen Maler angeht, so fällt er einem gewiß etwas auf die Nerven, wenn er besonders verblüffen will, dafür aber ist er im Grunde einer der klügsten Menschen, die ich überhaupt kenne. Und vor allem fühlt man sich dort frei, man tut ganz zwanglos, was man will, ohne sich zu genieren. Wieviel gute Laune wird jeden Tag in diesem Salon verschenkt! Ich werde ganz entschieden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur noch in diesem Milieu verkehren. Mehr und mehr werden mich meine Gewohnheiten und mein Leben nur noch dahin führen.
Da aber die Vorzüge, die er den Verdurins tatsächlich beimaß, nur der Abglanz von Freuden waren, die seine Liebe zu Odette bei ihnen gefunden hatte, wurden diese Vorzüge um so ernsthafter, tiefer, lebenswichtiger, je mehr seine Freuden es wurden. Da Madame Verdurin Swann zuweilen das schenkte, was allein für ihn das Glück bedeutete, da sie an einem bestimmten Abend,wo er sich unruhig fühlte, weil Odette mit einem der Gäste mehr als mit den anderen gesprochen hatte, und er in seiner Gereiztheit gegen sie nicht die Initiative ergreifen wollte, sie zu fragen, ob sie mit ihm nach Hause führe, ihm Frieden und Freude zurückgab, indem sie unbefangen sagte: »Odette, Sie nehmen ja Monsieur Swann mit, nicht wahr?« – da Madame Verdurin, als er sich zunächst angstvoll gefragt hatte, ob Odette im kommenden Sommer nicht ohne ihn verreisen würde, ob er sie wohl weiter jeden Tag sehen könnte, sie beide einlud, den Sommer bei ihr auf dem Land zu verbringen –, ließ Swann unbewußt Dankbarkeit und Eigennutz in seinen Geist eindringen und seine Vorstellungen so sehr beeinflussen, daß er sogar erklärte, Madame Verdurin sei eine große Seele. Mochte irgendeiner seiner alten Kameraden von der École du Louvre 1 ihm von noch so kultivierten oder hervorragenden Leuten erzählen, er antwortete jedesmal: »Mir sind die Verdurins tausendmal lieber.« Und in feierlichem Ton, wie er ganz neu an ihm war, setzte er hinzu: »Sie sind wirklich großherzige Menschen, und Großherzigkeit ist im Grunde das einzige, was gilt und was die Menschen hier auf Erden auszeichnen kann. Siehst du, es gibt eben nur zwei Klassen von Menschen: großherzige und solche, die es nicht sind; ich bin jetzt in einem Alter, wo man sich ein für allemal entscheiden muß, wen man liebt und wen man mit Nichtachtung straft, wo man sich an die halten muß, die man liebt, und, um die mit den anderen vergeudete Zeit wettzumachen, sie bis zu seinem Lebensende nicht wieder verlassen darf. Jawohl!« fügte er dann mit jener leichten Rührung hinzu, die man empfindet, wenn man unbewußt etwas sagt, nicht weil es wahr ist, sondern weil man Vergnügen daran findet, es zu sagen, und der eigenen Stimme lauscht, als käme sie von einem anderen, »die Würfel sind gefallen, ich habemich für die großherzigen Seelen entschieden und will nur noch in der Atmosphäre der Großherzigkeit leben. Du fragst mich, ob Madame Verdurin tatsächlich klug sei. Ich versichere dir, daß sie mir Beweise eines Seelenadels gegeben hat, einer Größe des Herzens, die man nicht ohne ein dementsprechendes Niveau des Geistes erreicht. Ganz zweifellos besitzt sie ein tiefes Kunstverständnis. Doch ich finde sie da nicht einmal am bewundernswertesten; und irgendeine auf erfinderische und ganz ausgesuchte Weise gütige kleine Tat, die sie mir zuliebe ausgeführt hat, eine wirklich vom Genius des Herzens her inspirierte Aufmerksamkeit, irgendeine vertraulich sublime Geste enthüllen ein tieferes Verstehen unserer Existenz als alle Traktate der Philosophie.«
Er hätte sich gleichwohl sagen können, daß es alte Freunde seiner
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