Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
ein Literaturkenner bereits beim Lesen eines Satzes die literarischen Qualitäten seines Autors richtig einzuschätzen weiß. Odette aber gehörte zu den Personen (die außerordentlich zahlreich vertreten sind, was auch die Leute vonWelt darüber denken mögen, und die es in jeder Gesellschaftsklasse gibt), die über diese Elementarkenntnisse nicht verfügen und sich einen ganz anderen Schick vorstellen, der je nach dem Milieu, dem sie angehören, ein verschiedenes Gesicht bekommt, auf alle Fälle aber dadurch gekennzeichnet ist – ob es nun der ist, von dem Odette träumte, oder jener, vor dem Madame Cottard sich beugte –, daß er für alle unmittelbar zugänglich ist. Der andere, der der ersten Gesellschaft, ist es eigentlich auch, allerdings mit einer gewissen Verzögerung. Odette sagte zum Beispiel von jemandem:
    »Er geht immer nur dahin, wo es schick ist.«
    Und wenn Swann sie fragte, was sie damit meine, so gab sie etwas geringschätzig zurück:
    »Aber mein Gott, wo es eben schick ist, hinzugehen! Wenn du in deinem Alter erst lernen mußt, was schick ist, was soll ich dir dann sagen? Sonntags morgens zum Beispiel die Avenue de l’Impératrice, um fünf Uhr rund um den See, am Donnerstag das Edentheater, Freitag das Hippodrom, dann die Bälle …« 1
    »Was für Bälle denn?«
    »Na, die Bälle, die in Paris gegeben werden, die Bälle, die schick sind, eben. Zum Beispiel Herbinger, du weißt doch, wer das ist, der bei einem Börsenmakler ist? Aber doch, natürlich, das mußt du doch wissen, das ist eine der bekanntesten Persönlichkeiten von Paris, so ein großer Blonder; er ist solch ein Snob, er hat immer eine Blume im Knopfloch und helle, knallenge Hosen; er ist ewig mit dieser angemalten alten Schachtel unterwegs, die er zu jeder Premiere führt. Gut! Also der hat neulich abend einen Ball gegeben, da war alles, was schick ist in Paris. Ich kann gar nicht sagen, wie gern ich hingegangen wäre! Aber man mußte an der Tür seine Einladungskarte vorzeigen, und ich habe keine mehr bekommen können. Im Grund ist es mir jetzt ebenso lieb, daß ichnicht hingehen konnte. Es muß zum Umkommen gewesen sein, ich hätte nichts gesehen. Es ist mehr, um sagen zu können, man sei bei Herbinger gewesen. Du kannst dir denken, daß mir das was ausgemacht hätte! Im übrigen kannst du sicher sein, daß von hundert, die erzählen, sie seien dort gewesen, die Hälfte mindestens die Unwahrheit sagt … Aber das wundert mich wirklich, daß jemand, der so piekfein ist wie du, nicht dagewesen ist.«

Swann gab sich keine Mühe, ihr eine andere Vorstellung von dem, was schick ist, beizubringen, denn er sagte sich, daß auch die seine nicht richtig, jedenfalls ebenso töricht und ohne wirkliche Bedeutung sei; so fand er kein Interesse daran, seine Geliebte zu belehren, und noch nach Monaten interessierte sie sich für die Leute, mit denen er verkehrte, nur wegen der Karten für die besten Plätze beim Rennen und der Premierenbilletts, die er ihr durch sie beschaffen konnte. Sie wünschte, daß er so nützliche Verbindungen pflegte, neigte anderseits aber dazu, sie an sich für wenig schick zu halten, besonders nachdem sie auf der Straße die Marquise von Villeparisis in einem schwarzen Wollkleid und einem Kapotthut gesehen hatte.
    »Aber die sieht ja aus wie eine Logenschließerin, wie eine alte Portierfrau, Darling! Und das will eine Marquise sein! Ich bin zwar nicht Marquise, aber ich weiß nicht, was man mir geben müßte, damit ich in solchem Aufzug auf die Straße ginge!«
    Sie verstand nicht, daß Swann dieses Haus am Quai d’Orléans bewohnte, das sie, ohne es ihm zu sagen, seiner nicht würdig fand.
    Gewiß, sie tat so, als ob sie für »Antiquitäten« etwas übrig habe, sie nahm eine entzückte und kennerhafte Miene an, wenn sie sagte, sie habe den ganzen Tag »gestöbert« und nach »interessanten alten Sachen« gesucht,Sachen »aus der Zeit«. Obwohl sie so etwas wie eine Ehrensache daraus machte (offenbar befolgte sie damit einen Grundsatz, den sie von zu Hause mitbekommen hatte), niemals auf Fragen zu antworten oder über den Gebrauch, den sie von ihren Tagen machte, »Rechenschaft abzulegen«, erzählte sie Swann doch einmal von einer Freundin, bei der sie eingeladen war und bei der alles »aus der Epoche« gewesen sei. Es gelang Swann aber nicht, aus ihr herauszubringen, welche Epoche es denn sei. Immerhin behauptete sie nach einigem Nachdenken, es sei »mittelalterlich« gewesen. Darunter verstand sie, daß die

Weitere Kostenlose Bücher