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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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gegenüber gepaart, in allen Berufszweigen gewissen der Intelligenz zugehörigen Männern, Medizinern, die nicht an die ärztliche Wissenschaft, Gymnasiallehrern, die nicht an die Übersetzung ins Lateinische glauben, das Ansehen von glänzenden und sogarüberlegenen Naturen mit breitem geistigem Horizont geben kann. Bei Madame Verdurin legte er den größten Wert darauf, seine Vergleiche immer den aktuellsten Gebieten zu entnehmen, wenn er von Philosophie oder Geschichte sprach, zum einen, weil er glaubte, sie seien nur eine Vorbereitung auf das Leben, und er sich einbildete, in dem »kleinen Clan« alles das in praxi zu finden, was er nur aus Büchern kannte; dann vielleicht auch, weil er, da er gewissen Themenbereichen gegenüber Respekt anerzogen bekommen und unbewußt beibehalten hatte, den Akademiker abzulegen glaubte, wenn er sich ihnen gegenüber Freiheiten gestattete, die ihm im Gegenteil als solche nur erschienen, weil er der geblieben war, der er war.
    Gleich zu Beginn des Essens, als Monsieur de Forcheville zu Madame Verdurin, an deren rechter Seite er saß und die zu Ehren des »Neuen« beträchtlichen Toilettenaufwand getrieben hatte, sagte: »Dieses weiße Kleid ist wirklich originell, solch blanker Taft hat Stil«, hatte der Doktor, der ihn unaufhörlich im Auge behielt – so neugierig war er darauf, wie jemand beschaffen sein mochte, den er als einen »von« bezeichnete – und auf eine Gelegenheit brannte, mit ihm in Kontakt zu kommen, nur den Klang der Wörter »blanker … Stil« erhascht, und ohne die Nase vom Teller zu heben gefragt: »Blanka? Von Kastilien? Meint er Blanka von Kastilien?« und darauf mit gesenktem Kopf nach beiden Seiten lächelnd unsichere Blicke ausgesandt. Während Swann durch sein gequältes und vergebliches Bemühen zu lächeln deutlich zu erkennen gab, daß er dieses Wortspiel albern fand, hatte Forcheville gezeigt, daß er die Feinheit der Anspielung zu schätzen wußte, und gleichzeitig Lebensart bewiesen, indem er eine Heiterkeit, deren unbefangene Äußerung Madame Verdurin entzückte, in den richtigen Grenzen hielt.
    »Was sagen Sie zu so einem Gelehrten?« hatte sie Forcheville gefragt. »Man kann nicht zwei Minuten ernst sein mit ihm. Erzählen Sie so etwas auch Ihren Leuten im Krankenhaus?« fügte sie zu dem Doktor gewendet hinzu. »Das müßte ja ein fideler Aufenthalt sein. Ich sehe schon kommen, daß ich mich eines Tages dort einliefern lasse.«
    »Ich glaube gehört zu haben, daß der Doktor von dieser alten Beißzange Blanka von Kastilien sprach. Stimmt das, Madame?« fragte Brichot Madame Verdurin, die vor Lachen beinahe sterben wollte und mit geschlossenen Augen ihr Gesicht in den Händen verbarg, so daß man nur noch erstickte Schreie vernahm. »Mein Gott, Madame, ich habe etwaige fromme Seelen nicht verletzen wollen, falls es solche in dieser Tafelrunde gibt, sub rosa 1 …Ich muß übrigens anerkennen, daß unsere – ach, und wie! – unbeschreibliche athenische Republik 2 in der Gestalt dieser obskurantistischen Capetingerin den ersten Polizeipräfekten mit starker Hand ehren könnte. Doch, doch, mein teurer Gastgeber«, fuhr er mit klangvoller Stimme und deutlicher Betonung jeder Silbe als Antwort auf einen Einwurf von Monsieur Verdurin fort. »Die so wohldokumentierte Chronik von Saint-Denis läßt in dieser Hinsicht keine Zweifel bestehen. Niemand wäre besser am Platze als Patronin eines laizistischen Proletariats als diese Mutter eines Heiligen, den sie übrigens abscheulich behandelt hat, wie uns Abt Suger und andere Leute vom Schlage des heiligen Bernhard berichten; denn bei ihr kriegte jeder gehörig eins auf den Deckel.« 3
    »Wer ist dieser Herr?« wollte Forcheville von Madame Verdurin wissen, »der scheint ja ganz erstklassig zu sein.«
    »Wie, Sie kennen den berühmten Brichot nicht, er ist in ganz Europa bekannt.«
    »Ach so! Das ist Bréchot«, rief Forcheville aus, der nicht recht hingehört hatte; »na so was«, fügte er hinzu, während er den berühmten Mann mit weitaufgerissenen Augen musterte. »Es ist immer interessant, mit einem Mann am Tisch zu sitzen, von dem so viel gesprochen wird. Aber sagen Sie, Sie haben ja da wirklich einen ganz auserlesenen Kreis beisammen. Bei ihnen langweilt man sich nicht.«
    »Oh, Sie müssen wissen«, bemerkte Madame Verdurin bescheiden, »es herrscht eben hier vor allem ein allgemeines gegenseitiges Vertrauen. Jeder spricht, wovon er sprechen mag, und das Gespräch gleicht oft wahren Explosionen.

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