Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Was Brichot betrifft, so ist das heute noch gar nichts. Ich habe ihn hier bei uns schon so glänzend erlebt, daß man sich ihm zu Füßen hätte werfen können. Bei anderen freilich ist er nicht der gleiche, er ist nicht immer so brillant, man muß dann jedes Wort aus ihm herausziehen; er kann geradezu langweilig sein.«
»Merkwürdig!« wunderte sich Forcheville.
Die Art von Geist, die Brichot versprühte, hätte in der Coterie, in der Swann seine Jugend verbracht hatte, als pure Dummheit gegolten, wiewohl sie mit wirklicher Intelligenz vereinbar ist. Und die kräftige, gehaltvolle Intelligenz des Professors hätte wahrscheinlich manche Leute von Welt neidisch machen können, die Swann geistvoll fand. Er war aber selbst so stark von den Vorlieben und Abneigungen dieser Kreise infiziert, wenigstens in allem, was mit dem gesellschaftlichen Leben zusammenhing, jedoch auch mit demjenigen der angrenzenden Gebiete, das eigentlich mehr dem Bereich der Intelligenz zugeordnet werden sollte, nämlich der Konversation, daß er die Witzeleien Brichots nur pedantisch, gewöhnlich und zum Übelwerden zotig fand. Außerdem verletzte ihn dank seiner Gewöhnung an gute Manieren der barsche, militärische Ton, den derstreitbare Universitätsmann gern jedem gegenüber anschlug, an den er sich unmittelbar wendete. Schließlich war wohl auch Swann an diesem Abend ganz besonders die gewohnte Nachsicht abhanden gekommen, als er sah, wieviel Liebenswürdigkeit Madame Verdurin für diesen Forcheville aufwendete, den Odette bizarrerweise mit ins Haus gebracht hatte. Etwas befangen Swann gegenüber hatte sie ihn beim Kommen gefragt:
»Wie finden Sie meinen Gast?«
Und er, der zum erstenmal merkte, daß Forcheville, den er schon lange kannte, eigentlich ein schöner Mann war und einer Frau gefallen könnte, hatte geantwortet: »Gräßlich!« Gewiß fiel es ihm nicht ein, Odettes wegen eifersüchtig zu sein, aber er fühlte sich an diesem Abend nicht so glücklich wie sonst, und als Brichot, der angefangen hatte, die Geschichte der Mutter Blankas von Kastilien zu erzählen, die »mit Heinrich Plantagenet schon jahrelang zusammengelebt hatte, ehe sie ihn heiratete« 1 , in dem forschen Ton, in dem man sich dem Fassungsvermögen eines Bauern anpaßt oder einem alten Soldaten Mut machen will, Swann mit den Worten: »Nicht wahr, Monsieur Swann?« dazu anregen wollte, nach dem Fortgang der Geschichte zu fragen, brachte dieser zum großen Ärger der Gastgeberin Brichot um die erhoffte Wirkung, indem er antwortete, man möge sein geringes Interesse an Blanka von Kastilien entschuldigen, aber er habe eine Frage an den Maler auf dem Herzen. Dieser hatte nämlich am Nachmittag die Ausstellung eines mit Madame Verdurin befreundeten, aber kürzlich verstorbenen Künstlers besucht, und nun hätte Swann gern (denn er schätzte seinen Geschmack) von ihm gewußt, ob sich in den letzten Bildern von seiner Hand wirklich noch etwas ganz anderes gezeigt habe als jene Virtuosität, die in den früheren Werken bereits verblüffend gewesen war.
»In dieser Hinsicht war er ja immer außergewöhnlich stark, aber es schien mir nicht eigentlich eine Kunst zu sein, die man ›erhebend‹ nennen könnte.«
»Erhebend … ein erhebendes Schauspiel«, fiel Doktor Cottard ihm mit fingiertem Ernst und erhobenem Arm ins Wort.
Die ganze Tischrunde lachte.
»Was habe ich gesagt? Man kann nicht ernst bleiben, wenn er da ist«, sagte Madame Verdurin zu Forcheville. »Ehe man sich’s versieht, packt er eine Albernheit aus.«
Sie hatte aber wohl bemerkt, daß Swann als einziger den Mund nicht verzogen hatte. Es freute ihn allerdings auch nicht sehr, daß Cottard ihn vor Forcheville zum Gegenstand der allgemeinen Heiterkeit machte. Der Maler aber, der wahrscheinlich in interessanter Weise auf Swanns Worte geantwortet hätte, wäre er mit ihm allein gewesen, legte es jetzt lieber darauf an, von den Tischgästen bewundert zu werden, indem er sich weiter über die Geschicklichkeit des verewigten Meisters ausließ.
»Ich bin ganz nahe herangetreten«, sagte er, »um zu sehen, wie es gemacht ist, ich habe mir fast die Nase plattgedrückt. Unglaublich! Man kann nicht sagen, ob er Kleister, Rubinen, Seife, Bronze, Sonnenstrahlen oder Kacka dazu nimmt!«
»Macht den Meister«, rief Cottard verspätet aus, welchen Einwurf niemand verstand.
»Es sieht aus, wie mit gar nichts gemacht«, fuhr der Maler fort, »es ist ebenso unmöglich, den Trick herauszubekommen wie bei der
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