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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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sagte: »Bleiben Sie nicht lange, dieser Herr hier hat nicht gern Besucher, wenn er Lust hat, bei mir zu sein. Ach! Wenn Sie ihn kennen würden, wie ich ihn kenne!«, das gleiche Lächeln, mit dem sie Swann für irgendein Zeichen besonderen Zartgefühls dankte, das sie so sehr an ihm schätzte, für einen Rat, den sie sich von ihm erbeten hatte in einer so wichtigen Angelegenheit, daß sie sich dabei nur auf ihn verließ.
    Dann fragte er sich, wie er dieser Odette einen so empörenden Brief hatte schreiben können, wie sie ihn zweifellos niemals von ihm erwartet hätte und durch den er gewiß von dem hohen Piedestal herabgestiegen war, auf dem er bei ihr dank seiner Güte und Anständigkeit sonst stand. Er würde ihr jetzt sicher weniger teuer sein; denn gerade aufgrund jener Eigenschaften, die sie weder bei Forcheville noch bei sonst jemand gefunden hatte, liebte sie ihn ja. Ihretwegen bezeigte ihm Odette so oft eine Freundlichkeit, die ihm im Augenblick seiner Eifersucht unbedeutend erschien, weil sie kein Zeichen des Verlangens nach ihm war und sogar eher Neigung als eigentlich Liebe verriet, deren Wichtigkeit er aber im gleichen Verhältnis von neuem empfand, wie das Nachlassen seines Argwohns, das oft auch noch durch die Ablenkung bei der Lektüre eines kunstgeschichtlichen Werkes oder in einem Gespräch mit einem Freund beschleunigt wurde, seine Leidenschaft minder anspruchsvoll in bezug auf Erwiderung machte.
    Jetzt, da nach dieser Oszillation Odette ganz von selbst an den Platz zurückgekehrt war, von dem Swanns Eifersucht sie einen Augenblick lang vertrieben hatte, an den Punkt, wo er sie reizend fand, stellte er sie sich als ein Wesen voller Zärtlichkeit vor, mit einem Blick der Verheißung und damit so hübsch, daß er nicht anders konnte als die Lippen zum Küssen spitzen, als sei sie da und er könne sie in die Arme nehmen; für diesenbetörend liebevollen Blick hegte er ebensoviel Dankbarkeit gegen sie, als habe er ihn in Wirklichkeit von ihr erhalten, als habe ihn nicht nur seine Einbildungskraft ihm vorgetäuscht, um sein Verlangen zu stillen.
    Welchen Kummer mochte er ihr bereitet haben! Sicherlich fand er gute Gründe für seinen Groll gegen sie, doch sie hätten nicht genügt, dieses Gefühl bei ihm auszulösen, wenn er sie nicht so sehr liebte. Hatte er nicht ebenso großen Verdruß durch andere Frauen erfahren, denen er gleichwohl heute noch jederzeit gern gefällig wäre und im Grunde nicht zürnte, weil er sie nicht mehr liebte? Sollte er eines Tages Odette gegenüber ebenso gleichgültig werden, müßte er einsehen, daß nur seine Eifersucht etwas so Arges, Unverzeihliches in ihrem an sich so begreiflichen Wunsch hatte sehen können, einem Wunsch, der einem gewissen Maß an Kinderei und auch einer gewissen Zartheit des Empfindens entstammte, da sie ja nur bei sich bietender Gelegenheit auch einmal den Verdurins für ihre vielen Freundlichkeiten danken und selber Gastgeberin sein wollte.
    Er kehrte wieder zu jenem Standpunkt zurück – der dem von Liebe und Eifersucht bestimmten entgegengesetzt war, den er aber von Zeit zu Zeit, aus einer Art von intellektueller Redlichkeit und um allen Möglichkeiten gerecht zu werden, einzunehmen bemüht war –, von dem aus er Odette zu beurteilen suchte, als habe er sie nicht geliebt, als sei sie für ihn eine Frau wie jede andere, und das Leben Odettes, sobald er den Rücken gekehrt hatte, nicht etwas anderes, vor ihm Verborgenes, ja eine gegen ihn angezettelte Angelegenheit.
    Wieso nahm er eigentlich an, daß sie dort in Bayreuth mit Forcheville und anderen so berauschende Dinge erleben wollte, die sie bei ihm nicht gefunden hatte und die doch einzig eine Ausgeburt seiner Eifersucht waren? In Bayreuth wie in Paris dachte vielleicht Forcheville,wenn er es überhaupt tat, an ihn nur wie an jemanden, der in Odettes Leben eine große Rolle spielte und hinter dem er zurücktreten mußte, wenn sie bei ihr zusammentrafen. Wenn Forcheville und sie triumphierten, daß sie gegen seinen Willen in Bayreuth seien, so hätte er selbst es nicht anders gewollt, indem er sie überflüssigerweise daran zu hindern versuchte, während es, wenn er ihren – im übrigen ganz vertretbaren – Plan billigte, so aussehen würde, als sei sie dort in Befolgung seines Rates; sie würde sich dann von ihm dort hingeschickt und wohl untergebracht fühlen, und für das Vergnügen, das er ihr bereitete, nämlich die Leute bei sich sehen zu können, die sie so oft zu sich eingeladen

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