Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
die Dauer eines Verzichts muß im voraus nach dem angenommenen Endtermin berechnet werden) wie aus einem Jungbrunnen wiederaufgetaucht waren, und aus dem, was bislang ein vorauszusehendes Vergnügen war, das man leichten Herzens preisgibt, war ein unverhofftes Glück geworden, dem man nicht widerstehen kann. Endlich trat diese Vorstellung auch dadurch verschönt wieder auf, daß Swann keine Ahnung hatte, was Odette inzwischen angesichts der Tatsache, daß er kein Lebenszeichen von sich gab, gedacht und getan haben mochte, so daß das, was er jetzt antreffen würde, nichts Geringeres war als die passionierende Offenbarung einer fast unbekannten Odette.
    Sie aber sah, ebenso wie sie seine Weigerung, ihr Geld zu geben, für eine Finte erachtet hatte, nur einen Vorwand in dem angeblichen Interesse an der Wagenlackierung oder dem Papier, das sie kaufen wollte. Denn sie lebte in Gedanken nicht die verschiedenen Phasen der Krisen nach, die er durchlief, begriff auch bei der Vorstellung, die sie sich davon machte, ihren eigentlichen Mechanismus nicht, sondern glaubte nur an das, was sie im voraus kannte, das notwendige, unausbleibliche und stets gleiche Ende. Daraus ergab sich ein unvollständiges Bild – das aber vielleicht gerade dadurch um so tiefgründiger war –, wenn man es von Swanns Standpunkt aus betrachtete, der sich von Odette ebenso unverstanden gefühlt hätte wie ein Morphinist oder ein Lungenkranker, die beide in der Überzeugung, daß sienur, der eine aufgrund eines äußeren Ereignisses in dem Augenblick, da er sich von einer eingewurzelten Gewohnheit befreien wollte, der andere aufgrund einer zufälligen Indisposition gerade zu dem Zeitpunkt, wo er endlich genesen wäre, krank geschrieben wurden, sich von ihrem Arzt verkannt glauben, der diesen angeblichen Zufälligkeiten nicht die gleiche Bedeutung wie sie beimißt, in ihnen vielmehr einfache Verkleidungen sieht, in denen, um seinen Patienten von neuem bewußt zu werden, Laster und Krankheit erscheinen, die in Wirklichkeit nie aufgehört haben, unheilbar auf ihnen zu lasten, während sie sich in Träumen von Einsicht und Heilung wiegten. Tatsächlich war Swanns Liebe in jenes Stadium eingetreten, wo der Arzt oder bei bestimmten Leiden selbst der kühnste Chirurg sich fragt, ob es noch vernünftig oder möglich sei, den Kranken von seiner Sucht oder seinem Leiden befreien zu wollen.
    Bestimmt hatte Swann kein unmittelbares Bewußtsein von den Ausmaßen dieser Liebe. Wenn er sie zu sondieren versuchte, kam es ihm zeitweilig so vor, als sei sie kleiner geworden, als sei sie fast verschwunden; zum Beispiel verspürte er an gewissen Tagen wieder nur das mäßige Wohlgefallen oder besser Mißfallen, wie in der Zeit vor seiner Liebe zu Odette, angesichts ihrer zu scharfen Züge und ihrer unfrischen Haut. Wirklich ein spürbarer Fortschritt, sagte er sich am folgenden Tag; wenn ich es recht betrachte, hat es mir gestern überhaupt kein Vergnügen gemacht, bei ihr im Bett zu sein; es ist sonderbar, ich habe sie geradezu häßlich gefunden. Sicher war er aufrichtig, doch reichte seine Liebe weit über die Region des physischen Verlangens hinaus. Odettes Person nahm eigentlich keinen großen Raum mehr darin ein. Wenn sein Blick auf ihre Photographie auf seinem Schreibtisch fiel oder sie ihn besuchen kam, vermochte er nur schwer ihre Gestalt in Fleisch und Blutoder auf Glanzpapier mit der ständigen schmerzlichen Unruhe seines Innern in Zusammenhang zu bringen. Er sagte sich dann fast staunend: Das ist sie, als wenn man uns plötzlich, aus uns herausoperiert, eine unserer Krankheiten zeigte und wir sie gar nicht dem ähnlich fänden, was wir in uns verspüren. »Sie« – er versuchte sich manchmal zu fragen, was das eigentlich sei: denn darin zeigen Liebe und Tod viel eher als in den etwas unbestimmten Zügen, die man gemeinhin dafür anführt, eine Ähnlichkeit, daß wir in der Furcht, ihre Wirklichkeit könne uns entschwinden, dem Geheimnis der Persönlichkeit immer tiefer nachgehen. Diese Krankheit Swanns aber, seine Liebe, hatte sich so sehr vervielfältigt, war so eng mit allen seinen Gewohnheiten, seinem Denken und Handeln, seiner Gesundheit, seinem Schlaf, seinem Leben, ja selbst mit dem, was er nach seinem Tod ersehnte, verknüpft, sie war so sehr nur noch eins mit ihm, daß man sie nicht aus ihm hätte herausreißen können, ohne ihn selbst fast völlig zu vernichten: seine Liebe war, wie die Chirurgie es nennt, inoperabel geworden.
    Durch diese Liebe war

Weitere Kostenlose Bücher