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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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seinem Geist zu eliminieren, alles andere jedoch so belassen, wie es vorher war. Das Nichtvorhandensein einer Sache ist aber nicht nur das, sie bedeutet nicht ein partielles Fehlen, sondern bringt auch alles andere zum Einstürzen, es ist ein neuer Zustand, den man sich in dem vorhergehenden nicht vorstellen kann.
    Ein andermal dagegen – Odette war eben im Begriff zu verreisen – beschloß er nach einem kleinen Streit, für den er selbst den Vorwand gesucht und gefunden hatte, ihr nicht zu schreiben und sie nicht wiederzusehen, bevor sie von ihrer Reise zurückgekehrt wäre, wobei er einer Trennung, deren Hauptteil – da der Reise gewidmet – ganz unvermeidlich war und die durch sein Vorgehen nur etwas eher ihren Anfang nahm, den Anschein eines großen Bruchs gab, den sie vielleicht für endgültig halten würde und aus dem er Gewinn zu ziehen trachtete. Schon sah er im Geist Odette, wenn sie weder Besuche noch Briefe von ihm erhielte, unruhig und betrübt, und dieses Bild, das seine Eifersucht beschwichtigte, machte es ihm leichter, sich zu entwöhnen, sie zu sehen. Gewiß gab es Augenblicke, in denen er ganz im Hintergrund seines Bewußtseins – in den sein Entschluß diese Vorstellung zu verbannen versuchte, da ja die lange Strecke der drei Wochen Abwesenheit dazwischenlag – mit Vergnügen daran dachte, daß er Odette bei ihrer Rückkehr wiedersehen werde; doch tat er es gleichzeitig mit so wenig Ungeduld, daß er sich zu fragen begann, ob er die Dauer einer ihm so leichtfallenden Enthaltung nicht lieber um das Doppelte verlängern sollte. Sie dauerte jetzt noch nicht länger als drei Tage an, also sehr viel weniger Zeit, als er sonst oft verbracht hatte, ohne Odette zu sehen und ohne daß er es sich, wie jetzt, im voraus vorgenommen hatte. Doch dann genügte irgendeine kleine unvorhergesehene Schwierigkeit oder ein leichtes physisches Unbehagen – dadurch, daß er bewogen wurde, den gegenwärtigen Augenblick, in dem sogar die Vernunft bereit wäre, die von einem Vergnügen herbeigeführte Beruhigung zu akzeptieren und den Willen zu beurlauben, bis zu dem Zeitpunkt, da es sinnvoll wäre, die Anstrengungen wiederaufzunehmen –, um die Wirkung eben dieses Willens, der nunseinen Druck nicht länger ausübte, vorübergehend aufzuheben; oder es genügte auch schon weniger als das, der Gedanke etwa an eine vergessene Anfrage bei Odette, ob sie mit sich über die neue Farbe einig geworden sei, die sie ihrem Wagen geben wolle, oder ob es sich bei einem Börsenpapier um gewöhnliche oder Vorzugsaktien handle, die sie zu kaufen wünsche (es war ja recht und gut, ihr zu zeigen, daß er auch ohne sie auskommen konnte, aber wenn nachher die Farbe noch einmal geändert werden mußte oder die Aktien keine Dividende gaben, wäre auch nichts gewonnen!), um wie ein straff gespanntes Gummiband, das man losläßt, oder die Luft, die aus einer nur wenig geöffneten Luftpumpe ausströmt, aus den Fernen, in denen sie festgehalten wurde, die Vorstellung, sie wiederzusehen, plötzlich in den Bereich des Gegenwärtigen und der unmittelbaren Möglichkeiten zurückschnellen zu lassen.
    Sie trat wieder auf, ohne noch irgendeinem Widerstand begegnet zu sein, und zwar mit so unaufhaltsamer Gewalt, daß es Swann viel leichter gefallen war, zu spüren, wie einer nach dem andern der vierzehn Tage sich näherte, während deren er von Odette getrennt sein würde, als die zehn Minuten zu überstehen, die der Kutscher zum Anspannen brauchte, damit der Wagen ihn zu ihr führte, und die er in leidenschaftlicher Ungeduld und Freude verbrachte, während er tausendmal sich zärtlich an dieser Vorstellung weidete, sie gleich wiederzusehen, die gerade in dem Augenblick, da er sie so fern wähnte, durch eine plötzliche Wendung in seinem nächsten Bewußtseinsbereich unmittelbar vor ihm lag. Jetzt war sie nämlich in ihm nicht mehr durch den Wunsch behindert, ihr auf der Stelle zu widerstehen, denn dieser Wunsch bestand bei Swann nicht mehr, seitdem er sich selbst bewiesen hatte – wenigstens bildete er es sich ein –, daß er leicht dazu imstande sei; er hatte jetzt keinBedenken mehr, einen Trennungsversuch aufzuschieben, dessen Ausführung ihm gesichert schien, sobald er es nur wolle. Außerdem trat diese Vorstellung, sie wiederzusehen, jetzt mit einer Neuheit, einer Verführung geschmückt, mit einer Frische begabt vor ihn hin, die durch die Gewohnheit stumpf geworden, dann aber aus dem Entzug von nicht drei, sondern von vierzehn Tagen (denn

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