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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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die er sich in Gedanken immer wieder vorsprach wie »Alles Bluff !« – »Ich merkte, worauf sie hinauswollte«, ihm so wehtun konnten. Doch allmählich sah er ein, daß das, was er für einfache Wendungen hielt, lediglich die Teile jener Vorrichtung waren, die das Leiden, das er bei Odettes Erzählungverspürt hatte, aufgespeichert hielt und zu jeder Zeit von neuem auf ihn loslassen konnte. Denn es war wirklich genau dasselbe Leiden, das er nun von neuem empfand. Es half ihm nichts, daß er jetzt alles wußte – er mochte sogar mit fortschreitender Zeit schon ein wenig vergessen, ja verziehen haben –, im Augenblick, da er sich diese Worte wiederholte, machte das alte Leiden ihn wieder so, wie er gewesen war, bevor Odette gesprochen hatte: unwissend und vertrauend; seine grausame Eifersucht versetzte ihn, damit Odettes Geständnis ihn auch ja richtig träfe, in die Situation eines Menschen, der noch von gar nichts weiß, und noch nach mehreren Monaten erschütterte ihn diese alte Geschichte wie eine ganz neue Enthüllung. Er bewunderte die schreckliche Macht seines Gedächtnisses, Vergangenes neu zu erschaffen. Erst von dessen nachlassender Zeugungskraft, deren Fruchtbarkeit im Alter abnimmt, konnte er sich Linderung seiner Marter erhoffen. Wenn aber einmal eines der von Odette gesprochenen Worte seine Kraft, ihn zu versehren, etwas erschöpft zu haben schien, löste irgendein anderes, an dem sich Swann bislang weniger gestoßen hatte, ein noch fast neues, jenes abgenutzte ab und traf ihn mit unverminderter Härte. Die Erinnerung an den Abend, als er mit der Fürstin des Laumes zu Nacht gegessen hatte, war ihm schmerzlich geblieben, doch bildete sie nur gleichsam das Zentrum seines Leidens. Wahllos strahlte dieses aus auf alle Tage davor und danach. Und welche Stelle in seinem Gedächtnis er auch mit seinen Erinnerungen berühren wollte, jene ganze Saison, in der die Verdurins so oft auf der Insel im Bois zu Abend gegessen hatten, tat ihm weh. So weh sogar, daß die Neugier, die die Eifersucht in ihm weckte, durch die Angst vor neuen Martern allmählich aufgehoben wurde, die er sich, wenn er ihr nachgab, vielleicht zuziehen würde. Er machte sich klar, daß der ganzeLebensabschnitt Odettes vor der Begegnung mit ihm, jene Periode, die er sich niemals recht hatte vorstellen wollen, nicht die von ihm in ungewissen Umrissen erschaute abstrakte Zeitstrecke war, sondern aus ganz bestimmten mit konkreten Begebenheiten angefüllten Jahren bestand. Nun fürchtete er, daß diese farblose, verfließende und somit erträgliche Vergangenheit dadurch, daß er sie näher kennenlernte, eine greifbare, widerwärtige Gestalt, ein individuelles, teuflisches Antlitz erhalten könnte. Er mühte sich also weiterhin, sie nicht deutlich vor sich zu sehen, weniger aus Trägheit des Denkens als aus Angst zu leiden. Er hoffte, eines Tages den Namen der Insel im Bois und der Fürstin des Laumes hören zu können, ohne jenen alten zerreißenden Schmerz zu verspüren, und fand es unvorsichtig, aus Odette neue Worte, neue Ortsnamen, weitere Umstände herauszulocken, die wahrscheinlich seine kaum besänftigten Qualen in anderer Gestalt wiederaufleben ließen.
    Dinge jedoch, von denen er kaum etwas wußte, deren nähere Kenntnis er jetzt aber fürchtete, enthüllte aus eigenem Antrieb Odette ihm häufig selbst, ganz ohne es zu merken; tatsächlich war der Abstand, den Odettes Laster zwischen ihrem wirklichen Leben und dem verhältnismäßig harmlosen schuf, von dem Swann geglaubt hatte und sehr häufig auch jetzt noch glaubte, daß sie es führe, ihr selber nicht in vollem Ausmaß bewußt: ein dem Laster ergebenes Wesen, das vor den Menschen, die davon nichts wissen wollen, immer die gleichen Tugenden zur Schau trägt, verliert den Überblick darüber, wie sehr diese Laster, deren unaufhörliches Anwachsen sich ihm selber unbewußt vollzieht, es allmählich von den normalen Lebensgewohnheiten abdrängen. Dadurch, daß sie in Odettes Bewußtsein so dicht mit der Erinnerung an Handlungen, die sie vor Swann verbarg,zusammenwohnten, nahmen auch andere Handlungen die Färbung von diesen an, sie wurden von diesen angesteckt, ohne daß sie selbst etwas Befremdendes an ihnen feststellte und ohne daß jene in der speziellen Umgebung, in der sie bei ihr beheimatet waren, irgendwie auffallend wurden; wenn sie sie aber Swann erzählte, war er aufs tiefste über die Atmosphäre entsetzt, aus der sie offenbar kamen. Eines Tages versuchte er, Odette möglichst

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