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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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jedenfalls offen ein. Was für ein Interesse sollte ich haben, dir nicht auch zu sagen, daß ich mit ihm am Tag des Paris-Murcia-Festes zusammen zu Mittag gegessen hätte, wenn es wirklich so wäre? Noch dazu, wo wir uns ja damals noch gar nicht so sehr gut kannten, sag doch selbst, chéri.« Er lächelte sie mit der plötzlichen Feigheit des kraftlosen Menschenwesens an, das diese niederschmetternden Worte aus ihm gemacht hatten. Also auch schon in jenen Monaten, an die er kaum jemals zurückzudenken gewagt hatte, weil er allzu glücklich gewesen war, in jenen Monaten, da sie ihn liebte, hatte sie ihn schon belogen! Wie viele andere Augenblicke noch als diesen, wo sie ihm gesagt hatte, sie komme aus der Maison Dorée (es war der erste Abend gewesen, andem sie »Cattleya gespielt« hatten) mochte es gegeben haben, die hehlerisch eine Lüge versteckten, von der Swann nichts ahnte. Er erinnerte sich, daß sie eines Abends zu ihm gesagt hatte: »Ich brauche ja Madame Verdurin nur zu sagen, mein Kleid sei nicht fertig geworden oder mein Wagen habe sich verspätet. Eine Ausrede findet sich doch immer.« Auch ihm hatte sie wahrscheinlich häufig ein paar Worte hingeworfen, die eine Verspätung erklären, die Verschiebung einer Verabredung rechtfertigen sollten; sicher hatte sie, ohne daß er es damals ahnte, irgend etwas verdeckt, was sie mit einem andern plante, zu dem sie bestimmt gesagt hatte: »Ich brauche Swann nur zu sagen, mein Kleid sei nicht fertig gewesen oder mein Wagen zu spät gekommen, eine Ausrede findet sich doch immer.« Und hinter allen süßesten Erinnerungen Swanns, hinter den einfachsten Worten, die Odette ihm früher gesagt und an die er wie an das Evangelium geglaubt hatte, den täglichen kleinen Vorhaben, von denen sie ihm erzählt hatte, den gewohntesten Stätten, dem Haus der Schneiderin, der Avenue du Bois, dem Hippodrom spürte er – verborgen im Schutz jenes Überschusses an Zeit, der auch in noch so detailliert berichteten Tagesabläufen einen gewissen Spielraum offenläßt und als Versteck für gewisse Handlungen dienen kann – die mögliche unterirdische Gegenwart von Lügengeweben, die ihm jetzt alles vergällten, was ihm das Liebste gewesen war (die schönsten Abende, die Rue La Pérouse sogar, die Odette offenbar immer zu anderen Stunden verlassen hatte, als sie ihm gegenüber behauptete); überall trugen sie etwas von dem düsteren Grauen hin, das er bei ihrem Geständnis bezüglich der Maison Dorée empfunden hatte, und brachten wie die unreinen Tiere beim Untergang von Ninive Stein für Stein seine ganze Vergangenheit ins Wanken. 1 Wenn er sich von nun an jedesmal wegwandte,sobald sein Gedächtnis den grausamen Namen der Maison Dorée heraufführte, so war es nicht mehr wie vor ganz kurzem noch bei der Soiree von Madame de Saint-Euverte, weil er ihn an ein Glück, das er seither verloren hatte, sondern weil er ihn an ein Unglück erinnerte, von dem er erst neuerdings wußte. Dann wurde es mit dem Namen der Maison Dorée wie mit der Insel im Bois, allmählich hörte er auf, Swann Schmerzen zu bereiten. Denn das, was wir für unsere Liebe, unsere Eifersucht halten, ist nicht ein und dieselbe fortlaufende, unteilbare Leidenschaft. Sie setzen sich aus einer Unendlichkeit aufeinanderfolgender Liebes- und Eifersuchtszustände zusammen, die nur kurzlebig sind, durch ihre unübersehbare Menge aber den Eindruck der Folge und die Illusion einer Einheit vermitteln. Das Leben von Swanns Liebe und die Beständigkeit seiner Eifersucht waren aus dem Tod und der Unbeständigkeit unzähliger Wünsche, unzähliger Zweifel gemacht, die alle Odette zum Gegenstand hatten. Hätte er sie wirklich einmal lange nicht gesehen, so wären die gestorbenen nicht durch andere ersetzt worden. Odettes Gegenwart aber säte in Swanns Herz abwechselnd neuen Argwohn und neue Zärtlichkeitsgefühle.
    An manchen Abenden legte sie unvermittelt ihm gegenüber wieder eine Liebenswürdigkeit an den Tag, die sie ihn auf der Stelle wahrnehmen hieß, unter Androhung der Möglichkeit, daß er sie jahrelang nicht mehr bei ihr wiederantreffen werde; er mußte dann sofort zu ihr mitgehen und »Cattleya spielen«, und dieses Verlangen nach ihm, das sie so plötzlich zu verspüren behauptete, trat so jäh, so unerklärlich und so gebieterisch auf, die Liebkosungen, die sie dabei an ihn verschwendete, waren so betont und so ungewohnt, daß diese brutale Zärtlichkeit ohne rechte Überzeugungskraft Swann ebenso schmerzte wie Lüge oder

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