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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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grausamer als der erste. Niemals hatte er vermutet, daß die Sache vor so kurzer Zeit und gleichsam unter seinen Augen geschehen sei, ohne daß er es gemerkt hatte, nicht in einer Vergangenheit, wo er sie noch nicht kannte, sondern an einem jener Abende, an die er sich gut erinnern konnte, die er mit Odette verlebt hatte; er hatte geglaubt, sie so gut zu kennen, jetzt aber bekamen sie rückblickend etwas Heimliches und Grauenvolles; mitten unter ihnen klaffte wie eine Spalte jener Augenblick auf der Insel im Bois. Odette war zwar nicht intelligent, aber sie besaß den Reiz der Natürlichkeit. Sie hatte die ganze Szene so harmlos erzählt und mimisch dargestellt, daß Swann atemlos alles an sich vorbeiziehen sah: Odettes Gähnen, den kleinen Felsen. Er hörte sie – lachend leider! – antworten: »Alles Bluff !« Er spürte, daß sie an diesem Abend nichts mehr sagen würde, daß er im Augenblick keine weitere Enthüllung von ihr erwarten durfte; er sagte:
    »Mein armes Liebes, sei mir nicht böse, ich merke, daß ich dich quäle, aber jetzt ist es vorbei, ich denke nicht mehr daran.«
    Sie aber sah, daß seine Blicke auf die Dinge geheftet blieben, die er nicht wußte, und auf die Vergangenheit ihrer Liebe, die in seiner Erinnerung einförmig und freundlich dagelegen hatte, weil sie unbestimmt war, und die jetzt von jener Minute im Bois beim Mondschein, nach dem Abendessen bei der Fürstin des Laumes, wie eine Wunde aufgerissen wurde. Doch er hatte sich so sehr daran gewöhnt, das Leben interessant zu finden – die kuriosen Entdeckungen zu bestaunen, die man darin machte –, daß er noch, als er in einem Maße litt, daß er glaubte, er könne nicht lange mehr solchen Schmerz ertragen, sich sagte: Das Leben ist wirklich erstaunlich und hält immer Überraschungen bereit; das Laster ist offenbar viel verbreiteter, als man meint. Da ist nun hier diese Frau, zu der ich Vertrauen hatte, die so schlicht und so redlich wirkt, selbst wenn sie leichtfertig ist, die einem so normal und gesund in ihren Neigungen vorkommt: auf eine ganz unwahrscheinliche Verleumdung hin frage ich sie, und das wenige, was sie mir gesteht, ist schon viel mehr, als ich vermuten konnte. Es gelang ihm aber nicht, sich auf solche selbstlosen Betrachtungen zu beschränken. Er versuchte, genau die Bedeutung dessen abzuschätzen, was sie ihm erzählte, um daraus schließen zu können, ob sie diese Dinge häufig getan und ob sie sie wieder tun könnte. Er wiederholte sich die Worte, die sie gebraucht hatte: »Ich merkte, worauf sie hinauswollte.« – »Zwei- oder dreimal.« – »Alles Bluff !«, aber sie verloren in Swanns Gedächtnis nichts von ihrer Schärfe; jedes von ihnen hielt sein Messer und gab ihm einen neuen Stich. Lange Zeit hindurch verhielt er sich wie ein Kranker, der es nicht lassen kann, jede Minute die Bewegung zumachen, die für ihn schmerzhaft ist, und sagte sich unaufhörlich vor: Ich fühle mich hier sehr wohl. – Alles Bluff ! doch sein Leiden nahm derart zu, daß er innehalten mußte. Er wunderte sich, daß Handlungen, die er immer so leichtfertig, fast amüsiert hingenommen hatte, jetzt so schwerwiegend geworden waren wie eine Krankheit, an der man sterben kann. Er kannte viele Frauen, die er hätte bitten können, ein Auge auf Odette zu haben. Wie aber sollte er hoffen, daß sie den gleichen Standpunkt einnehmen würden wie er und nicht vielmehr den, der so lange sein eigener gewesen war und durch den er sich stets in seinen Liebesaffären hatte bestimmen lassen; daß sie nicht lachend sagten: »Dieser eifersüchtige Kerl will nur die anderen um ihr Vergnügen bringen.« Welche Falltür hatte sich plötzlich aufgetan und ihn (der doch früher aus seiner Liebe zu Odette nur zarte Freuden gezogen hatte) brüsk in diesen neuen Höllenkreis entsandt, von dem er nicht wußte, ob er ihn je wieder verlassen würde? Arme Odette! Er war nicht böse auf sie. Sie selbst war nur zur Hälfte schuld. Sagte man denn nicht, daß ihre eigene Mutter sie, als sie noch ein halbes Kind war, in Nizza einem reichen Engländer überantwortet habe? Doch welche schmerzliche Wahrheit enthielten nunmehr für ihn jene Zeilen aus dem Journal d’un poète von Alfred de Vigny, über die er früher gleichgültig hinweggelesen hatte: »Wenn man sich von Liebe zu einer Frau ergriffen fühlt, sollte man sich fragen: In welcher Umgebung lebt sie? Wie ist ihr Dasein verlaufen? Alles Glück des Lebens hängt davon ab.« 1 Swann staunte, daß einfache Wendungen,

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