Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Grausamkeit. EinesAbends, als er in dieser Weise auf ihren förmlichen Befehl mit zu ihr gegangen war, und während sie ihre Küsse mit Worten der Leidenschaft untermischte, die zu ihrer sonstigen Kühle in krassem Widerspruch standen, meinte er auf einmal ein Geräusch zu hören; er stand auf, suchte überall, konnte aber nichts finden; doch hatte er nicht das Herz, zu ihr zurückzukehren, worauf sie außer sich vor Zorn eine Vase zerschlug und zu ihm sagte: »Mit dir ist auch nie etwas anzufangen!« Er aber blieb im unklaren darüber, ob sie irgend jemand versteckt hatte, dessen Eifersucht sie erregen oder dessen Sinne sie entzünden wollte.
Manchmal suchte er Bordelle auf in der Hoffnung, etwas über sie zu erfahren, allerdings ohne ihren Namen zu nennen. »Ich habe da eine Kleine, die Ihnen gefallen wird«, sagte die Kupplerin. Und dann verbrachte er eine Stunde in melancholischem Gespräch mit einem armen Mädchen, das sich wunderte, daß er weiter nichts wollte. Eine junge, ganz entzückende Person sagte eines Tages zu ihm: »Am liebsten hätte ich einen Freund, er könnte sicher sein, daß ich dann nie mehr mit einem anderen ginge.« »Wirklich? Meinst du, es könne möglich sein, daß es einer Frau ernstlich etwas ausmacht, wenn man sie liebt, so daß sie einen dann nicht mehr betröge?« wollte Swann angstvoll wissen. »Aber sicher! Das hängt vom Charakter ab!« Swann konnte nicht anders, er sagte diesen Mädchen dieselben Dinge, die der Fürstin des Laumes gefallen hätten. Zu der, die einen Freund suchte, bemerkte er mit einem Lächeln: »Das ist hübsch, du hast heute blaue Augen angezogen, sie passen ganz genau zur Farbe deines Gürtels.« »Sie haben auch blaue Manschetten.« »Eine schöne Unterhaltung führen wir, wenn man bedenkt, wo wir hier sind! Langweile ich dich auch nicht? Du hast vielleicht zu tun?« »Nein, ich habe beliebig Zeit. Wenn Sie michlangweilten, würde ich es sagen. Im Gegenteil, ich höre Ihnen gern zu.« »Das ist sehr schmeichelhaft für mich. Nicht wahr, wir unterhalten uns doch sehr gut?« meinte er, als die Kupplerin ins Zimmer trat. »Aber gewiß, das hatte ich mir gedacht. Wie brav diese Kinder sind! So ist das neuerdings: Man kommt zum Plaudern zu mir. Der Fürst hat es neulich erst gesagt, er fühlt sich hier viel wohler als bei seiner Frau. Es scheint, daß in der großen Welt die Frauen jetzt eine Art haben … es ist ein Skandal! Aber ich bin diskret, ich lasse euch allein.« Und damit überließ sie Swann dem Mädchen mit den blauen Augen. Er stand bald auf und sagte adieu, sie interessierte ihn nicht, sie wußte nichts von Odette.
Da der Maler erkrankt war, hatte Doktor Cottard ihm zu einer Seereise geraten; mehrere Getreue sprachen davon, ihn dabei zu begleiten; die Verdurins konnten sich nicht entschließen, allein zurückzubleiben, sie mieteten eine Jacht, erwarben sie dann sogar, und auf diese Weise machte Odette eine Reihe von Seereisen mit. Jedesmal, wenn sie eine Weile fort war, fühlte Swann, daß er anf ing, sich von ihr zu lösen, doch es war, als stehe diese geistige Distanz im direkten Verhältnis zur materiellen Entfernung, denn sobald er Odette wieder in Paris wußte, hielt er es nicht aus, ohne sie zu sehen. Einmal, als sie – so glaubten sie wenigstens! – nur für vier Wochen verreist waren, fuhren sie, sei es, daß sie erst unterwegs Lust dazu bekamen oder daß Monsieur Verdurin im voraus das Ganze seiner Frau zu Gefallen so arrangiert und die Getreuen erst von Fall zu Fall näher unterrichtet hatte, von Algier aus zuerst nach Tunis, dann nach Italien, dann nach Griechenland und von da aus nach Konstantinopel und Kleinasien. Die Reise dauerte schon fast ein Jahr. Swann war vollkommen ruhig, beinahe glücklich. Obwohl Madame Verdurin den Pianisten und Doktor Cottard zu überzeugen versucht hatte,daß die Tante des einen und die Patienten des anderen sie nicht brauchen würden und daß es auf alle Fälle unvorsichtig wäre, Madame Cottard nach Paris zurückkehren zu lassen, wo, wie Monsieur Verdurin behauptete, Revolution sei, mußte sie ihnen doch in Konstantinopel die Freiheit wiedergeben. Der Maler reiste mit ihnen zurück. Eines Tages, kurz nach der Heimkehr der drei Reisenden, sah Swann einen Omnibus in Richtung Luxembourg vorüberfahren, wo er zu tun hatte 1 ; er sprang auf und fand sich mit einem Mal Madame Cottard gegenüber, die in großer Toilette, mit einem Reihergesteck am Hut, im Seidenkleid, mit Muff, En-tout-cas 2 sowie
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