Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
wiedererlangen wollen. Diese älteren Ureinwohner seiner Seele wendeten einen Augenblick alle Kräfte Swanns für die verborgene Wiederherstellungsarbeit auf, die einem Genesenden, einem Operierten die Illusion der Ruhe gibt. Diesmal vollzog sich die Entspannung durch Erschöpftheit weniger als gewöhnlich in Swanns Hirn als vielmehr in seinem Herzen. Doch alle Dinge des Lebens, die einmal existiert haben, zeigen die Tendenz, wiederzuerstehen, und wie ein verendendes Tier, das von einem letzten Anfall des Krampfes geschüttelt wird, der schon beendet schien, so zeichnete in Swanns einen Augenblick lang schon weniger versehrtes Herz noch einmal das gleiche Leiden das gleiche schneidende Kreuz. Er dachte an die Vollmondabende zurück, als er in seinen Mylord gelehnt sich zur Rue La Pérouse tragen ließ und lustvoll in sich die Gefühle eines Verliebten hegte, ohne von der vergifteten Frucht zu wissen, die sie unweigerlich hervorbringen würden. Doch alle diese Gedanken hielten nur eine Sekunde an, nur solange er brauchte, die Hand zum Herzen zu führen, den stockenden Atem zu beleben und hinter einem Lächeln seine Qual zu verbergen. Schon fing er wieder an, sich neue Fragen zu stellen. Denn seine Eifersucht, die sich mehr mühte als ein Feind, der ihm einen Schlag hätte zufügen wollen, ihm nur ja den grausamsten Schmerz zum Bewußtsein zu führen, den er je erfahren hatte, fand, er habe noch immer nicht genug gelitten, und suchte ihm eine noch tiefere Wunde beizubringen. Wie eine böse Gottheit trieb sie mit ihren Einflüsterungen Swann seinem Verderben entgegen. Es lag nicht an ihm, sondern an Odette, wenn zunächst seine Qual sich noch nicht verschlimmerte.
»Liebes«, sagte er, »es ist also gut; war etwas mit einer Person, die ich kenne?«
»Aber nein, ich schwöre dir, übrigens glaube ich, ichhabe übertrieben, es ist eigentlich nie so weit gekommen.«
Er lächelte und fing von neuem an:
»Was willst du? Es macht mir gar nichts aus, nur schade, daß du mir den Namen nicht sagen kannst. Wenn ich mir vorstellen könnte, mit wem es gewesen ist, würde ich gar nicht mehr an die Sache denken. Ich sage es nur deinetwegen, weil ich dich dann nicht mehr damit plagen würde. Es hat immer etwas Beruhigendes, wenn man sich die Dinge vorstellen kann! Schrecklich ist nur, was sich nicht ausmalen läßt. Aber du warst nun schon so nett, da will ich nicht weiter in dich dringen. Ich danke dir von ganzem Herzen für alles Liebe, was du an mir tust. Es ist gut jetzt. Nur noch eine Frage: Wie lange liegt es zurück?«
»Aber, Charles, siehst du denn nicht, wie du mich damit quälst! Das sind uralte Geschichten. Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, es ist, als ob du mich mit Gewalt von neuem darauf bringen willst. Was hättest du auch schon davon«, meinte sie unbewußt töricht, aber mit einer Bosheit, die nicht ohne Absicht war.
»Ich wollte ja nur wissen, ob es war, als du mich schon kanntest. Aber das wäre ja nur natürlich; war es hier im Haus? Du kannst mir nicht einen bestimmten Abend nennen, damit ich mir vorstellen kann, was ich da gemacht habe? Du mußt dir doch selber sagen, Odette, mein Liebes, es ist doch ausgeschlossen, daß du nicht mehr weißt, mit wem es war.«
»Aber ich weiß es nicht mehr, ich glaube, es war einmal im Bois, wo du dann nachgekommen bist und uns auf der Insel getroffen hast. Du hattest bei der Fürstin des Laumes zu Abend gegessen«, fügte sie hinzu, froh, ein Detail beibringen zu können, das für ihre Wahrhaftigkeit sprach. »An einem Nachbartisch saß eine Frau, die ich sehr lange nicht gesehen hatte. Sie hat zu mirgesagt: ›Kommen Sie doch mit mir da hinter den kleinen Felsen, man sieht dort so schön den Mondschein auf dem Wasser spielen.‹ Erst habe ich gegähnt und gesagt: ›Ach nein, ich bin müde und fühle mich hier sehr wohl.‹ Da behauptete sie, einen so schönen Mondschein habe es noch nie gegeben. Ich habe geantwortet: ›Alles Bluff !‹ Ich wußte gleich, was sie wollte.«
Odette erzählte das alles beinahe lachend, sei es, daß es ihr ganz natürlich vorkam, sei es, daß sie glaubte, die Sache bekäme dadurch weniger Gewicht, vielleicht auch, um nicht nach schlechtem Gewissen auszusehen. Als sie Swanns Miene sah, änderte sie sofort ihren Ton:
»Du bist ein schrecklicher Mensch, es macht dir Spaß, mich zu quälen; du bringst mich dazu, daß ich dir Unwahrheiten erzähle, nur damit du mich in Ruhe läßt.«
Dieser zweite gegen Swann geführte Schlag war
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