Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Visitenkartentasche und weißen, frisch gereinigten Handschuhen auf Besuchstournee war. Mit diesen Insignien bekleidet ging sie, wenn trockenes Wetter war, zu Fuß von einem Haus zum anderen, soweit sie im gleichen Stadtviertel gelegen waren; doch um sich in ein anderes Quartier zu begeben, benutzte sie den Omnibus und seine Umsteigemöglichkeiten. Im ersten Augenblick, noch bevor bei ihr die angeborene Liebenswürdigkeit der Frau die Steifheit der Kleinbürgerin hatte durchbrechen können und ehe sie sich noch recht klar darüber war, ob sie zu Swann von den Verdurins sprechen sollte, führte sie ganz natürlich mit ihrer sanften, langsamen, etwas schüchternen Stimme, die augenblicksweise vom Lärm des Vehikels vollkommen überdeckt wurde, dieselben Reden, wie sie sie in den fünfundzwanzig Häusern, deren Stockwerke sie an einem Tag erklomm, mit anhörte und selbst wiederholte:
»Ich frage Sie gar nicht erst, Monsieur Swann, ob Sie, der Sie doch so über alles auf dem laufenden sind, bei den Mirlitons das Porträt von Machard 3 gesehen haben, zu dem alle Leute hinströmen. Ich bin gespannt, was halten Sie davon? Stehen Sie im Lager derer, die es bewundern, oder mißbilligen Sie es? In allen Salons ist nurnoch von Machards Porträt die Rede; man ist nicht schick, man gehört nicht dazu, man ist nicht auf der Höhe, wenn man nicht seine Meinung über Machards Porträt abgeben kann.«
Als Swann erklärt hatte, er habe das Porträt nicht gesehen, fürchtete Madame Cottard, ihn dadurch verletzt zu haben, daß sie ihn zu diesem Eingeständnis nötigte.
»So ist es recht, Sie geben es wenigstens offen zu. Sie rechnen es sich nicht zur Unehre an, wenn Sie das Porträt von Machard noch nicht gesehen haben. Ich finde das sehr richtig von Ihnen. Nun, ich habe es gesehen, die Meinungen sind geteilt, manche finden es etwas geleckt, etwas konditorhaft; ich selbst muß gestehen, ich finde es ideal. Wie die blauen und gelben Frauen, die unser Freund Biche malt, ist sie allerdings nicht. Aber ich muß offen sagen, auf die Gefahr hin, daß Sie mich nicht sehr fin de siècle finden, aber ich sage es, wie ich es empfinde, ich habe kein Verständnis dafür. Mein Gott, ich erkenne natürlich an, daß in dem Porträt meines Mannes irgend etwas steckt, es ist auch weniger seltsam als die, die er gewöhnlich malt, aber auch ihm mußte er einen blauen Schnurrbart malen. Hingegen dieser Machard! Sehen Sie, gerade der Mann der Freundin, zu der ich im Augenblick gehe (ich habe dadurch das große Vergnügen, die Fahrt mit Ihnen zu machen) hat ihr versprochen, sobald er in die Akademie aufgenommen wird (er ist ein Kollege des Doktors) ihr Porträt von Machard malen zu lassen. Aber das wird wohl ein schöner Traum bleiben! Ich habe eine andere Freundin, die behauptet, sie ziehe Leloir vor. Ich verstehe ja nicht genug davon, und Leloir ist vielleicht der noch größere Könner. Aber ich finde, die wichtigste Eigenschaft eines Porträts, zumal wenn es zehntausend Francs kostet, bleibt doch, daß es ähnlich ist, und zwar auf eine angenehme Art.«
Nachdem sie diese Äußerungen getan hatte, zu denen sie die Höhe ihrer Reiheragraffe, das Monogramm auf ihrer Visitenkartentasche, die kleine von der Färberei mit Tinte eingezeichnete Ziffer in ihren Handschuhen und ihre Hemmung, von den Verdurins zu sprechen, veranlaßten, hörte Madame Cottard, als sie sah, daß es bis zur Ecke der Rue Bonaparte, wo der Omnibusschaffner sie absetzen sollte, noch ziemlich weit sei, auf die Stimme ihres Herzens, die andere Worte in Bereitschaft hielt.
»Die Ohren haben Ihnen klingen müssen, Monsieur Swann«, sagte sie, »während der Reise, die wir mit Madame Verdurin gemacht haben. Unaufhörlich war von Ihnen die Rede.«
Swann war sehr erstaunt, er hatte vermutet, daß sein Name vor den Verdurins nie genannt würde.
»Im übrigen«, setzte Madame Cottard hinzu, »war Madame de Crécy mit von der Partie, und damit ist ja schon alles gesagt. Wo Odette auch ist, sie hält es niemals lange aus, ohne von Ihnen zu reden, und Sie können sich denken, daß sie nichts Schlechtes sagt! Wie? Sie scheinen zu zweifeln?« fragte sie angesichts einer skeptischen Gebärde Swanns.
Fortgerissen von der Aufrichtigkeit ihrer Überzeugung und ohne sich im übrigen irgend etwas Böses dabei zu denken, sondern nur als spräche sie von der herzlichen Zuneigung, wie sie Freunde untereinander hegen, fuhr sie fort:
»Sie vergöttert Sie ja! Ach, ich glaube, man dürfte in ihrer
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