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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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sich Mühe gab, wenn auch nicht in dieser so eigenartigen Epoche seines Lebens zu verbleiben, so doch, solange es noch möglich wäre, eine klare Sicht von ihr zu haben, feststellen mußte, daß es schon nicht mehr ging; er hätte diese Liebe, von der er sich entfernte, wie eine Landschaft sehen mögen, die allmählich entschwand; es ist aber so schwer, sich zu spalten und sich eine wahrhafte Vorstellung von einem Gefühl zu machen, das man nicht mehr hegt, daß bald alles in seinem Hirn in Dunkelheit verschwamm, er nichts mehr sah und nichts mehr sehen wollte, seinen Kneifer abnahm und die Gläser putzte; er sagte sich dabei, es sei besser, etwas auszuruhen, es sei auch nach einer Weile noch Zeit, und verkroch sich wie ein Reisender, der ohne Neugier, stumpf und starr, im Halbschlaf seinen Hut über die Augen schiebt, um in dem Eisenbahnwagen zu schlafen, der ihn immer schneller aus dem Land entführt, in dem er so lange gelebt hat und das er nicht hatte verlassen wollen ohne einen letzten Abschiedsblick. Wie der Reisende auch, der erst in Frankreich erwacht, bemerkte Swann, wenn er zufällig in seiner Nähe auf einen Beweis dafür traf, wonach Forcheville Odettes Liebhaber gewesen war, daß er keinen Schmerz mehr verspürte, daß die Liebe schon fern war, und bedauerte, daß er den Augenblick nicht wahrgenommen hatte, da er sie für immer hinter sich ließ. Und ebenso wie er vor seinem ersten Kuß versuchthatte, sich Odettes Gesicht einzuprägen, wie es so lange für ihn gewesen war, ehe die Erinnerung an diesen Kuß es verwandeln würde, so hätte er jetzt gern, in Gedanken wenigstens, während sie noch existierte, von jener Odette Abschied genommen, die ihm Liebe und Eifersucht eingeflößt hatte, die ihm Leiden bescherte und die er nun niemals mehr wiedersehen würde. Er täuschte sich. Er sollte ihr einige Wochen später noch einmal wiederbegegnen. Es war im Schlaf, im Dämmerlicht eines Traums. 1 Er ging mit Madame Verdurin, dem Doktor, einem jungen Mann im Fes, dessen Identität er nicht feststellen konnte, dem Maler, Odette, Napoleon iii. und meinem Großvater auf einem Weg spazieren, der dicht am Meer entlangführte, manchmal sehr hoch, manchmal aber auch nur ein paar Meter darüber, so daß man ständig aufwärts und abwärts ging; die Spaziergänger, die sich im Abstieg befanden, waren für die nicht sichtbar, die gerade aufwärts gingen; das ohnehin schwache Tageslicht nahm noch weiter ab, und dunkle Nacht schien sich jeden Moment ausbreiten zu wollen. Manchmal brandeten die Wogen bis an den Rand des Weges empor, und Swann spürte eiskalte Spritzer auf der Wange. Odette sagte ihm, er solle sie abtrocknen; aber er konnte nicht und fühlte sich ihr gegenüber aus diesem Grunde verlegen, wie auch deshalb, weil er im Nachthemd war. Er hoffte, man werde es bei der Dunkelheit nicht bemerken, Madame Verdurin aber fixierte ihn dennoch eine ganze Weile mit erstauntem Blick, währenddem sich ihre Züge verwandelten, ihre Nase ganz lang wurde und sie einen großen Schnurrbart bekam. Er wandte sich ab, um nach Odette zu sehen; ihre Wangen waren bleich und mit kleinen roten Flecken übersät, ihre Züge wirkten schlaff, sie hatte Ringe unter den Augen, aber sie schaute ihn mit zärtlichen Blicken an, die sich loszulösen und wie Tränen auf ihn zu fallen schienen,und er liebte sie so sehr, daß er sie auf der Stelle hätte entführen mögen. Auf einmal wendete Odette ihr Handgelenk um, sie blickte auf eine kleine Uhr und sagte: »Ich muß jetzt gehen«, sie verabschiedete sich von allen auf die gleiche Weise, ohne Swann auf die Seite zu ziehen und ohne ihm zu sagen, wo er sie am Abend oder an einem anderen Tag würde treffen können. Er wagte nicht, sie danach zu fragen, er wäre ihr gern nachgegangen, mußte aber, ohne sich nach ihr umzuwenden, lächelnd Madame Verdurin auf eine Frage Antwort geben; sein Herz schlug fürchterlich; er verspürte eine Art von Haß auf Odette, er hätte ihr die eben noch so sehr geliebten Augen auskratzen, ihre schlaffen Wangen wütend zerfleischen mögen. Er ging mit Madame Verdurin weiter aufwärts, das heißt entfernte sich mit jedem Schritt von Odette, die in umgekehrter Richtung abwärts ging. Nach einer Sekunde schon war sie stundenlang fort. Der Maler machte Swann darauf aufmerksam, daß Napoleon iii. sich einen Augenblick nach ihr entfernt habe. »Es war gewiß zwischen ihnen so ausgemacht«, setzte er hinzu, »sie treffen sich sicher unten am Strand, haben aber nicht

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