Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Gegenwart nicht das geringste gegen Sie vorzubringen wagen! Da käme man schön an! Bei jeder Gelegenheit, zum Beispiel wenn wir Bilder ansahen, sagte sie: ›Oh, wenn er jetzt da wäre, er wüßte ganz genau, ob das echt ist oder nicht. So gut wie er weiß das keiner.‹ Immerzu fragte sie sich: ›Was mag er jetzt wohl tun?Wenn er nur etwas arbeitete! Es ist zu schade, ein so begabter Mensch, aber leider faul. (Sie verzeihen mir, nicht wahr?) In diesem Augenblick sehe ich ihn vor mir, er denkt gewiß an uns und fragt sich, wo wir sind.‹ Sie hat sogar etwas gesagt, was ich ganz reizend fand; Monsieur Verdurin meinte nämlich: ›Aber wie können Sie denn sehen, was er in diesem Augenblick tut, wo Sie doch achthundert Meilen von ihm entfernt sind?‹ Da hat Odette gesagt: ›Dem Auge einer Freundin ist nichts unmöglich.‹ – Nein, ich schwöre Ihnen, ich sage das nicht, um Ihnen etwa zu schmeicheln, Sie haben eine wirkliche Freundin an ihr, wie man sie selten findet. Ich will Ihnen auch noch verraten, wenn Sie es noch nicht wissen, daß Sie bei ihr der einzige sind. Madame Verdurin sagte noch am letzten Tage zu mir (Sie wissen ja, am Abend vor der Abreise plaudert man am allerintimsten miteinander): ›Ich will nicht behaupten, daß Odette nicht an uns hängt, aber alles, was wir ihr sagen, hat kein Gewicht neben dem, was Monsieur Swann sagen würde.‹ Oh, mein Gott, jetzt macht mir schon der Schaffner ein Zeichen, beinahe hätte ich mich verplaudert und die Rue Bonaparte verpaßt … würden Sie so freundlich sein und mir rasch noch sagen, ob mein Reiher auch geradesitzt?«
Und Madame Cottard nahm ihre weiß behandschuhte Rechte aus dem Muff, um sie Swann zu reichen, ein Umsteigefahrschein entflatterte ihr, eine Vision von »high-life« erfüllte den Omnibus, mit dem Geruch von Fleckenwasser vermischt. Swann aber verspürte eine überflutende Zärtlichkeit für sie, ebenso für Madame Verdurin (und beinahe ebenso für Odette, denn sein Gefühl für sie war jetzt frei von Schmerz und daher kaum noch Liebe zu nennen), während er ihr von der Plattform aus mit gerührten Blicken nachsah; mutig, mit hohem Reiher und baumelndem Muff, mit der einenHand den Rock raffend und in der anderen den Schirm und die Visitenkartentasche haltend, deren Monogramm sie sehen ließ, verschwand sie in der Rue Bonaparte.
Als Gegengewicht gegen die krankhaften Gefühle, die Swann Odette entgegenbrachte, hatte Madame Cottard, die sich hierin als eine bessere Therapeutin erwies, als ihr Gatte es gewesen wäre, ihm daneben andere, normalere eingepflanzt: Gefühl der Freundschaft und Dankbarkeit, die in seinem Geist Odette menschlicher machen mußten (auch anderen Frauen ähnlicher, da auch andere Frauen ihm solche Gefühle einflößen konnten) und die ihre endgültige Umwandlung in jene mit friedlicher Zuneigung geliebte Odette beschleunigten, die ihn einmal nach einem Fest bei dem Maler mit Forcheville auf ein Glas Orangeade in ihre Wohnung mitgenommen hatte und an deren Seite Swann sich für einen Augenblick ein glückliches Leben vorstellen konnte.
Früher hatte er oft mit Schrecken daran gedacht, daß er eines Tages aufhören werde, in Odette verliebt zu sein; er hatte sich vorgenommen, gut aufzupassen, und sobald er ein Nachlassen seiner Liebe verspüren würde, sich daran anzuklammern und sie festzuhalten. Nun aber setzte gleichzeitig mit dem Schwächerwerden seiner Liebe auch eine Verminderung seines Wunsches, verliebt zu bleiben, ein. Denn man kann sich nicht ändern, das heißt eine andere Person werden, und gleichzeitig den Gefühlen derjenigen weiter gehorchen, die man nicht mehr ist. Manchmal verspürte er, wenn er in der Zeitung den Namen eines der Männer fand, von denen er vermutete, daß sie Odettes Liebhaber hätten sein können, noch einmal eine Regung von Eifersucht. Doch sie war nur sehr leicht, und da sie ihm bewies, daß er noch nicht gänzlich aus jener Periode heraus war, in der er so sehr gelitten hatte – in der er freilich auch eineso sinnlich beglückende Art des Fühlens gekannt hatte –, und daß die Zufälle des Weges ihm vielleicht gestatten würden, hier und da noch von ferne ihre Schönheiten zu genießen, verschaffte ihm diese Eifersucht eine eher angenehme Erregung, so wie etwa dem Pariser, der betrübten Sinnes Venedig verläßt und nach Frankreich zurückkehrt, ein letzter Moskito beweist, daß Italien und der Sommer noch nicht so ferne sind. Doch die meiste Zeit war es so, daß er, sofern er
Weitere Kostenlose Bücher