Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
konzentrierte Erzählsequenz, die zahlreiche Partien aus Jean Santeuil wiederaufnimmt. Gleichzeitig fallen die Begegnungen mit den jungen Mädchen in Querqueville (später Criquebec, schließlich Balbec) an Marcel. In der Erarbeitung eines Romanteils, der vom Kontinuum der Erzählung losgelöst ist, kommt auch Prousts intensiver Dialog mit literarischen Modellen zum Ausdruck. »Un amour de Swann« steht ganz unter dem Zeichen Balzacs, beziehungsweise in der Tradition des psychologischen Gesellschaftsromans, während in den Combray-Kapiteln die Autoren anklingen, die Proust in seiner Jugend gelesen und verehrt hat: Augustin Thierry, Jules Michelet, George Sand, Anatole France, Pierre Loti. So läßt Proust den Provinzroman à la Loti oder France und den psychologischen Gesellschaftsroman à la Balzac oder Bourget in den ersten Teilen seines Romans noch einmal aufscheinen, innerhalb eines Romanprojekts jedoch, das dazu bestimmt ist, diese Formen aufzulösen und zu überwinden.
Während seines Sommeraufenthalts in Cabourg im Jahre 1911 läßt Proust weitere Teile des Werks abtippen. Das Typoskript umfaßt jetzt 800 Seiten, ein Jahr später, im Juni 1912, nach weiteren Veränderungen immerhin noch 712 Seiten, aufgeteilt in drei einigermaßen gleich lange Teile: »Combray«, »Un amour de Swann« und »Noms de pays«, wobei der dritte Teil sowohl Marcels Phantasiebilder von Städten und Ländern als auch seinen ersten Aufenthalt in Querqueville enthielt. Der Roman trägt nun den Titel »Les intermittences du cœur« (»Das intermittierende Herz«, womit das unkontrollierbare Ein- und Aussetzen des affektiven Erlebens gemeint ist) und soll in zwei Bänden erscheinen: »Le temps perdu« (was etwa dem vorliegenden Typoskript entspricht) und »Le temps retrouvé«.Während Le Figaro einige Auszüge aus »Combray« publiziert, lehnen Fasquelle, die Nouvelle Revue Française und Ollendorff es ab, Prousts Roman zu verlegen. Schließlich willigt ein junger Verleger, Bernard Grasset, ein, ihn herauszubringen, auf Kosten des Autors, was damals zwar nicht außergewöhnlich war, für Proust jedoch eine große Enttäuschung bedeutete. Die Herstellung beginnt im März 1913; zur Verzweiflung seines Verlegers behandelt Proust die Druckfahnen genauso wie seine Entwurfhefte, Reinschriften und Typoskripte, das heißt er korrigiert nicht die Fehler des Druckers, sondern seinen eigenen Text. »Nicht eine von zwanzig Zeilen bleibt, wie sie war«, schreibt er nach der Fahnenkorrektur an J.-L. Vaudoyer am 12. April 1913. Das mag wohl etwas übertrieben sein, es ist aber tatsächlich so, daß beispielsweise die endgültige Form des Incipits, die endgültige Figur Vinteuils oder die Passagen über die »petite phrase« erst auf den Druckfahnen entstanden sind. Unter dem Druck der ständig anwachsenden Textmasse hat Proust auch in letzter Minute die Gliederung des Romanganzen (drei anstatt zwei Bände) und gleichzeitig den Haupttitel (»À la recherche du temps perdu« anstatt »Les intermittences du cœur«) sowie den Bandtitel (»Du côté de chez Swann« anstatt »Le temps perdu«) abgeändert. Die neue Gliederung brachte es mit sich, daß für den ersten Band ein neuer Schluß gefunden werden mußte. In der zweibändigen Version endete »Le temps perdu« mit dem ersten Aufenthalt in Querqueville; in der dreibändigen setzt Proust zuerst die virtuose Passage über den Sonnenstrahl auf dem Balkon, später dann die nicht weniger virtuose Passage über den Bois de Boulogne an den Schluß.
Trotz seines prekären Gesundheitszustands und trotz der unter größten Seelenqualen während der Fertigstellung von Swann gelebten Beziehung mit Alfred Agostinelli hat sich Proust neben der fieberhaften Arbeit am Text seines Romans auch um dessen Rezeption gekümmert. Durch Vorabdrucke in Le Figaro sowie durch ein Interview in Le Temps am Vortag der Publikation von Swann hat er versucht, das Lesepublikum auf das, was seiner harrte, vorzubereiten, und in zahlreichenBriefen hat er sich mit den im ganzen eher negativen Reaktionen auf seinen Roman auseinandergesetzt. Außer einigen meist von Freunden Prousts stammenden Rezensionen (Robert Dreyfus und Lucien Daudet in Le Figaro , Jean Cocteau in Excelsior , Gabriel Astruc in Gil Blas oder Jacques-Émile Blanche in L’Écho de Paris ) überwiegen die negativen, verständnislosen, ja feindseligen Stimmen. So schreibt beispielsweise Paul Souday in Le Temps am 10. Dezember 1913: »Es will uns scheinen, dem
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