Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
markiert den Übergang zu einem Roman, den Proust allerdings noch eine Weile als »mon Sainte-Beuve« bezeichnet. Obwohl er mit seinem neuen Anfang den autobiographischen Rahmen verlassen hat, hält Proust vorläufig auch an der Schlußszene, der »matinée avec maman«, fest. So schreibt er Mitte August 1909 an den Verlagsleiter des Mercure de France, Alfred Vallette, dem er sein Werk zur Publikation anbietet: »Ich vollende eben ein Buch, das trotz seines vorläufigen Titels: ›Gegen Sainte-Beuve. Erinnerung an einen Vormittag‹ ein wirklicher und in gewissen Partien äußerst unzüchtiger Roman ist. Eine der Hauptfiguren ist ein Homosexueller. […] Das Buch schließt mit einem Gespräch über Sainte-Beuve und die Ästhetik. […] Es ist ein Buch voller Ereignisse, von Ereignissen, die sich über jahrelange Intervalle hinweg ineinander spiegeln […].« Dieser Brief ist der erste der zahlreichen (man muß nachträglich sagen glücklicherweise) erfolglosen Versuche Prousts, einen Verleger zur Publikation seines Romans zu bewegen. Im Oktober läßt er etwa 200 Seiten (ungefähr »Combray«, ohne die Spaziergänge in Richtung Méséglise und in Richtung Guermantes) ins Reine schreiben und gleichzeitig abtippen. Seine Freunde Reynaldo Hahn und Georges de Lauris, denen er das Geschriebene vorliest, sind begeistert, während Calmette, der Chefredakteur des Figaro , auf sein früheres Angebot, den Anfang als Fortsetzungsroman zu bringen, nicht zurückkommt.
Anstatt nun nach den beiden in Combray spielenden Erzählsequenzen mit dem nächsten der damals vorgesehenen Schauplätze, nämlich Querqueville (das spätere Balbec) fortzufahren, beschäftigt sich Proust vorerst mit der Frage, wie seinRoman enden soll. So erklärt es sich, daß er im August 1909 an Madame Straus schreiben kann, er habe »ein langes Buch angefangen – und beendet«. In der Ahnung, daß im fiktiven Raum des Romans die »matinée avec maman« aus dem Sainte-Beuve-Projekt fehl am Platze wäre, vielleicht auch in Erinnerung an eine musikalische Soiree bei der Fürstin von Polignac am 11. April 1907, wo ihm nach längerer Zurückgezogenheit bewußt wurde, wieviel älter in der Zwischenzeit all seine Bekannten geworden waren, entwirft er eine Szene, in der die Figuren seines Romans, von den Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert, noch einmal auftreten. Er nennt diese Szene »bal des têtes« (Maskenball).
Im Laufe des Jahres 1910 verzichtet er gänzlich auf die ursprüngliche Schlußszene, kompensiert jedoch den Verlust an ästhetischer Thematik durch die Einführung oder die Weiterentwicklung der Künstlerfiguren: Bergotte, Vinteuil und Elstir. Außerdem nimmt er in einer 1911 zum erstenmal entworfenen Szene, »l’adoration perpétuelle«, die Idee einer abschließenden ästhetischen Betrachtung wieder auf. Gleichzeitig schreibt er eine neue Version des »bal des têtes«. In veränderter Form, zusammengefaßt in der »Matinée Guermantes«, beschließen »l’adoration perpétuelle« und »le bal des têtes« die Recherche auch in ihrer endgültigen Form. Die Arbeit an den Schlußkapiteln hat weitreichende Konsequenzen nicht nur für die thematische, sondern auch für die narrative Struktur des Romans. Während in den bisherigen Entwürfen – gemäß einem Muster, dem Proust schon in Jean Santeuil häufig folgte, das sich aber dort als erzähltechnische Sackgasse erwies – die Erfahrungen des Romanhelden oft durch das Einfügen späterer Ereignisse (das heißt durch Prolepsen) ergänzt und durch Kommentare des Erzählers erklärt wurden, verschiebt nun Proust alle erklärenden, eine jugendliche Illusion korrigierenden, ein aufgegebenes Rätsel lösenden Stellen an das Ende des Romans. Damit öffnet sich nun auch für den Leser jener unendlich weite Raum, den Marcel auf seiner Suche nach der Wahrheit zu durchmessen hat. Das Entziffern der Zeichen der Welt, das Gilles Deleuze in Proust und die Zeichen [24] als das eigentliche Hauptthema der Recherche erkannt hat, wird demLeser nicht mehr – oder zumindest nicht mehr im gleichen Maß – vom Erzähler abgenommen.
Was die eigentliche Fortsetzung des im Typoskript vorliegenden Romanteils betrifft, kreist Prousts Arbeit vorerst hauptsächlich um die Figur Swanns, dessen Liebesabenteuer in gewissen Entwürfen auch in Querqueville an der Küste der Normandie spielen. Im Laufe des Jahres 1910 entsteht jedoch eine selbständige, auf eine einzelne, in Paris spielende Liebesaffäre von Swann
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