Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
umfangreichen Band von Monsieur Marcel Proust fehle es an Komposition; er scheint ebenso maßlos wie chaotisch, und doch enthält er köstliche Elemente, aus denen der Autor ein kleines, feines Buch hätte machen können.« Damit wird letztlich dem Autor von Swann vorgeworfen, nicht auf dem Weg von Freuden und Tage geblieben, nicht ein zweiter Anatole France geworden zu sein, ein Urteil, zu dem Prousts äußerst kunstvolle Schreibweise, wie sie besonders auch in den Vorabdrucken zutage tritt, wohl ihren Teil beigetragen hat. Schmerzlicher noch traf Proust eine Rezension in der Nouvelle revue française , das heißt aus dem Bereich der literarischen Avantgarde, der anzugehören der Autor von Swann überzeugt war. Wie bei der Zurückweisung des Romanmanuskripts durch den Verlag der Nouvelle Revue Française spricht aus der Rezension in der gleichnamigen Zeitschrift das Vorurteil des intellektuellen »linken« gegen das bürgerliche »rechte« Seineufer: »Dieses Werk«, schreibt Henri Ghéon, »ist in Muße entstanden, im wahrsten Sinn des Wortes. […] Man spürt, daß Monsieur Marcel Proust über die ganze Zeit verfügt, die es braucht, um ein umfangreiches Werk reifen zu lassen, zu formen und zu vollenden.« Was dabei entstanden ist, wird als das teilweise zwar gelungene, im ganzen aber eben doch »müßige« Werk eines Autors hingestellt, der es sich leisten kann, seine Zeit mit minutiösen Erinnerungen und langen, umständlichen Analysen zu verbringen. Proust reagiert, wenn auch höflich, so doch heftig: »Ich kann dazu nur sagen«, schreibt er im Januar 1914 an Henri Ghéon, »daß berufliche Aktivität nicht der einzige Grund ist, daß ein Mensch keine Muße hat, daß ihm keine Zeit bleibt. Eine Krankheit zum Beispiel kann ebenso aufreibend, ebenso bedrängend, ebenso ermüdend sein, sieläßt einen ebenso altern wie der härteste aller Berufe, auch der manuellen.« Noch schärfer wendet er sich gegen die Ansicht, er habe einen Roman geschrieben, dessen Inhalt das freie Assoziieren von Erinnerungen und das beiläufige Analysieren von Wahrnehmungen und Gefühlen sei. Bald aber sollten auch die Mitarbeiter der Nouvelle Revue Française die wirkliche Bedeutung von Du côté de chez Swann und damit ihren verlegerischen Fehler erkennen. Der junge Verlagssekretär Jacques Rivière war der erste, der Proust gegenüber seiner Begeisterung Ausdruck gab. Dann war die Reihe an André Gide; er mußte eingestehen, Prousts Manuskript, wenn überhaupt, nur sehr flüchtig geprüft zu haben; jetzt leistete er Abbitte, und in der Folge ruhte er nicht, bis es im Jahre 1916 endlich gelang, Proust von Grasset zu Gallimard, das heißt zur Nouvelle Revue Française, herüberzuholen.
Auch im Ausland waren es Schriftsteller und Dichter, die als erste Prousts außerordentliche Bedeutung erkannten; in England unter anderen Katherine Mansfield, Virginia Woolf oder Joseph Conrad. In Italien verkündete schon im Dezember 1913 ein junger Kritiker und Romancier, Lucio D’Ambra in der Rassegna contemporanea , daß in Frankreich ein Buch erschienen sei, das man einmal neben Le rouge et le noir und La Chartreuse de Parme stellen werde. Nicht weniger enthusiastisch, wenngleich auch etwas nuancierter, klingt es bei Rilke, wenn er am 21. Januar 1914 an die Fürstin Thurn und Taxis schreibt: »Marcel Proust, Du côté de chez Swann, ein Buch, von dem Sie vielleicht schon Gutes gehört haben […] Ich empfehle Ihnen den ganzen ersten Theil und den ganzen dritten und bin gewiß, Sie werden ein vielfaches Vergnügen daran haben. Das lange Mittelstück, Swanns Liebes- und Eifersuchtsgeschichte, möchte nicht besser und nicht eben geringer sein als derartige französische Traktate zu sein pflegen.« Oder am 9. Februar 1914 an Lou Andreas-Salomé: »Schicke Dir nächster Tage ein Buch von Marcel Proust, zweiter Teil meist nur Roman, aber das andere wundervoll, voll unerschöpflicher Einfälle und Beziehungen und für die Psychoanalyse sehr interessant!« Für eine positive Wertung von »Un amour de Swann« – sei es vom Romanganzen (als Vorbereitung auf spätere Teile) oder vonIdeen Bachtins (als Stimme in einem intertextuellen Dialog) her – war es 1914 noch zu früh.
Die eigentlich interpretatorische sowie die übersetzerische Beschäftigung mit Proust hat erst nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt, und sie beschränkte sich in den seltensten Fällen auf den ersten Band der Recherche. Angelica Corbineau-Hoffmanns Forschungsbericht [22] oder Jean-Yves
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