Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
autobiographischen Erzählung. Im Dezember schreibt er an seinen Freund Georges de Lauris: »Ich werde etwas über Sainte-Beuve schreiben. Ich habe zwei Artikel in meinem Geist sozusagen schon gemacht (Zeitschriftenartikel). Der eine ist ein Artikel im klassischen Stil, der Essay Taines, nur weniger gut. Der andere würde mit der Erzählung eines Vormittags beginnen, Mama käme an mein Bett und ich würde ihr den Inhalt eines Artikels darlegen, den ich über Sainte-Beuve schreiben will. Und ich würde ihn ausführlicher schildern.« Auf Blätter derselben Art wie jene zu Beginn des Jahres für die Romanszenen verwendeten schreibt Proust dann Ende 1908 einen zusammenhängenden Entwurfin Essay-Form: »Die Methode Sainte-Beuves«.
Die Entwürfe in narrativer Form dagegen finden sich in einigen jener in schwarzes Moleskin gebundenen Schulhefte, von denen sich Proust Ende 1908 einen größeren Vorrat angeschafft hat und die er fortan für seine Entwürfe und Reinschriften verwenden wird. Der Wechsel von losen Blättern zu gebundenen Heften weist auf die Gewißheit Prousts, jenes große Werk, das er seit der Publikation von Freuden und Tage vergeblich zu schreiben versuchte, nun wirklich in Angriff nehmen zu können. Tatsächlich beginnt jetzt ein ungeheurer Arbeitsprozeß, der erst mit Prousts Tod enden wird. Materiell faßbar ist dieser Prozeß in den schwarzgebundenen Schulheften, den »cahiers«, die neben zahlreichen Typoskripten, Druckfahnen und anderen Dokumenten im Fonds Proust der Pariser Nationalbibliothek aufbewahrt werden. Während des ersten Halbjahres 1909 füllt Proust nun die zehn sogenannten »Cahiers Sainte-Beuve« mit Entwürfen, die folgendes Handlungsschema erkennen oder wenigstens erahnen lassen:
Seiner krankhaften Gewohnheit gemäß hat »Proust«, das heißt der Protagonist dieses autobiographischen Berichts, die Nacht hindurch gearbeitet und sich gegen Morgen zu Bett gelegt. Während er auf seine Mutter wartet, die ihm jeweils, bevor er einschläft, die Zeitung (Le Figaro) bringt und ihm »gute Nacht« wünscht, lauscht er auf die von der Straße ins Zimmer dringenden Geräusche und sinnt Erinnerungen nach. Die Mutter tritt ein; endlich ist im Figaro der vor langer Zeit eingesandte Artikel »Prousts« erschienen. Nun setzt »Proust« seiner Mutter das Projekt eines weiteren Artikels auseinander, der eine Kritik an Sainte-Beuves Methode zum Inhalt hat. Ein längeres Gespräch über Literatur sollte die »matinée avec maman« beschließen.
Zahlreiche Entwürfe lassen sich allerdings kaum in dieses Schema einordnen. Sie handeln von Combray, von Swann, von jungen Mädchen am Strand der Normandie, von den Guermantes, von der »race maudite« (dem verfluchten Geschlecht Sodoms). Unter der Wirkung dieser ausufernden Szenerie, der immer zahlreicher werdenden Handlungsräume, Personen- und Themenkreise verliert das Handlungsschema seine ordnende Funktion und wird schließlich – was den Übergang vom Sainte-Beuve-Projekt zur Recherche bedeutet – gänzlich fallengelassen. Zwei entscheidende Entdeckungen oder Erfindungen haben den Durchbruch zum Roman ermöglicht. Beide haben mit Erinnerung zu tun:
Erstens setzt Proust – entstehungsgeschichtlich datiert diese von zahlreichen ergebnislosen Versuchen vorbereitete Entdeckung vom Mai 1909 – nicht mehr einen Kranken, der die Geräusche des beginnenden Tages wahrnimmt und auf seine Mutter wartet, an den Anfang, sondern einen Gesunden, der nachts schläft, zuweilen erwacht und seinen Träumen und Erinnerungen nachsinnt. Damit gewinnt er jenes narrative Instrument, das es ihm erlaubt, in die verschiedenen Handlungsräume seiner Entwürfe vorzudringen und sie miteinander zu verbinden. Gleichzeitig erschafft er mit dieser Situation an der Schwelle zu seinem Roman ein Bild des von Sainte-Beuve ignorierten inneren Lebens. Zweitens entdeckt Proust, daß mit dem Thema der »mémoire involontaire« Handlungsräumeerschlossen und ausgeweitet werden können. So entsteht denn im Cahier 8 im Juni eine erste zusammenhängende Folge von Szenen und Episoden, in der die fächerartig ausgebreitete Erinnerung der Eingangsfigur zu einer ersten Erzählsequenz führt, während die in die Tiefe dringende und sich schließlich auf eine ganze Welt öffnende Erinnerung des Teetrinkenden den Übergang schafft vom traumatisch fixierten zum euphorisch sich weitenden Erinnerungsbild von Combray. Zu Recht wird das Cahier 8 nicht mehr zu den »Cahiers Sainte-Beuve« gerechnet. Es
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