Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
verstand, deren Erkenntnis aber das unbestimmte, wiewohl unabänderliche Ziel meines Denkens war.
Nach diesem zentralen Glauben, der sich in mir während des Lesens unablässig von innen nach außen, auf die Entdeckung der Wahrheit zubewegte, kamen die von der Handlung, an der ich teilnahm, geweckten erregenden Gefühle, denn jene Nachmittage waren an dramatischen Ereignissen reicher, als ein ganzes Menschenleben es oft ist. Es waren die Ereignisse, die in dem von mir gelesenen Buch eintraten; es stimmt, die davon berührten Personen waren, wie Françoise sagte, nicht »wirklich«. Allerdings kommen alle Empfindungen, die die Freude oder das Unglück einer wirklichen Person in uns wekken, auch nur auf dem Weg über ein Bild dieser Freude oder dieses Unglücks zustande; der geniale Einfall des ersten Romanschriftstellers bestand in der Entdeckung, daß in unserem Gefühlsapparat das Bild das einzigewesentliche Element ist und es deshalb einer entscheidenden Verbesserung gleichkäme, wenn man die Dinge dadurch vereinfachte, daß man die wirklichen Personen einfach ausschaltete. Ein wirklicher Mensch, mögen wir noch so sehr mit ihm sympathisieren, wird von uns zum großen Teil durch die Sinne wahrgenommen, das heißt, er bleibt undurchsichtig für uns, stellt eine tote Last dar, die durch unser Empfindungsvermögen nicht emporgehoben werden kann. Stößt ihm ein Unglück zu, können wir nur an einer kleinen Stelle der Gesamtvorstellung, die wir von ihm haben, davon berührt werden, ja mehr noch: auch nur in einem kleinen Teil der Gesamtvorstellung, die er von sich selber hat, wird er selbst es sein können. Der Fund des Romanschriftstellers bestand in der Idee, diese für die Seele undurchdringlichen Partien durch eine gleiche Menge immaterieller Teile zu ersetzen, das heißt solcher, die unsere Seele sich anverwandeln kann. Was spielt es nun noch für eine Rolle, ob die Handlungen und Gefühle dieser Wesen einer ganz neuen Art uns als wahr erscheinen, da wir sie ja zu den unseren gemacht haben, da sie sich in uns selbst vollziehen und, während wir fieberhaft die Seiten des Buches umblättern, die Schnelligkeit unserer Atemzüge und die Lebhaftigkeit unseres Blicks sich ganz nach ihnen regeln muß. Wenn uns aber der Romanschriftsteller erst einmal in diesen Zustand versetzt hat, in dem wie bei allen rein innerlichen Vorgängen jedes Gefühl verzehnfacht ist und in dem sein Buch uns nach Art eines Traums bewegt, eines Traums jedoch, der klarer ist als unsere Träume im Schlaf und auch in unserem Gedächtnis besser haften bleibt, dann entfesselt er in uns während einer Stunde alle nur möglichen Gefühle von Glück und Unglück, wofür wir im Leben Jahre brauchen würden, um nur einige wenige kennenzulernen, und von denen uns die intensivsten nie offenbart würden, weil sie sich miteiner Langsamkeit vollziehen, die es uns unmöglich macht, sie wahrzunehmen; (so wandelt sich unser Herz im Leben, und das ist der schlimmste Schmerz; doch wir erfahren ihn nur beim Lesen, in der Phantasie; in der Wirklichkeit wandelt es sich, wie gewisse Naturphänomene sich vollziehen, genügend langsam, daß wir zwar nacheinander jede seiner verschiedenen Phasen feststellen können, uns das eigentliche Bewußtsein des Wandels aber erspart bleibt).
In meinem Körper schon weniger verhaftet als das Leben der Personen folgte dann, halb vor meine Augen hinprojiziert, die Landschaft, in der die Handlung sich abspielte und die in meinem Denken einen viel größeren Raum einnahm als die andere, jene nämlich, die wirklich vor mir lag, sobald ich meinen Blick von dem Buch hob. So habe ich zwei Sommer hintereinander in der Hitze des Gartens von Combray wegen des Buchs, in dem ich las, Sehnsucht nach einer gebirgigen, flußreichen Gegend mit vielen Sägewerken gehabt, wo auf dem Grund des klaren Wassers Holzstücke unter Büscheln von Kresse vermoderten; nicht weit davon hingen an niederen Mauern Trauben von violetten und rötlichen Blüten herab. 1 Und da der Traum von einer Frau, die mich lieben würde, in meinen Gedanken immer eine Rolle spielte, war in jenen Sommern dieser Traum von der Kühle fließenden Wassers durchtränkt; und an was für eine Frau auch immer ich dachte, sogleich war sie von Trauben violetter und rötlicher Blüten wie von ihren Komplementärfarben umrahmt.
Das kam nicht nur daher, daß ein Bild, von dem wir träumen, immer durch den Widerschein der an sich fremden Tönungen gekennzeichnet, verschönt und über sich
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