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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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selbst erhoben wird, mit denen wir es zufällig in unseren Phantasien umgeben; denn die Landschaften in den Büchern, die ich las, waren für mich nicht einfachLandschaften, die meiner Einbildungskraft eindringlicher vorgestellt wurden als diejenigen, die Combray mir vor Augen hielt, die aber an sich dabei hätten die gleichen sein können. Dank der Wahl, die der Autor getroffen hatte, und dank dem Glauben, mit dem mein Denken seinem Wort als einer Offenbarung entgegenging, schienen sie mir – und niemals hatte ich in der Region, in der ich mich aufhielt, diesen Eindruck gehabt, vor allem nicht in unserem Garten, dem trivialen Erzeugnis der gradlinigen Phantasie des Gärtners, den meine Großmutter nicht mochte ein wirklicher Teil der echten Natur zu sein, der es sehr wohl verdiente, eingehend betrachtet und erforscht zu werden.
    Hätten meine Eltern mir erlaubt, den Schauplatz eines Buches, das ich las, selber aufzusuchen, so hätte das für mich einen unschätzbaren Fortschritt in der Eroberung der Wahrheit bedeutet. Die Empfindung, immer von seiner Seele umgeben zu sein, heißt nicht, sich in einer festverankerten Gefängniszelle zu fühlen; vielmehr wird man mit ihr davongetragen in dem unaufhörlichen Drang, über sie hinaus ins Freie zu gelangen, begleitet von einem Gefühl der Entmutigung, weil man immer um sich her den gleichen Klang vernimmt, der kein Echo von draußen ist, sondern die Resonanz des eigenen inneren Bebens. In den Dingen, die dadurch kostbar werden, sucht man den Widerschein zu entdecken, der von unserer Seele her auf sie fällt; enttäuscht stellt man fest, daß sie von Natur jenen Reiz nicht besitzen, den sie in der Welt unserer Gedanken durch die Nachbarschaft gewisser anderer Vorstellungen angenommen haben; oft verwandelt man alle Seelenkräfte in Geschicklichkeit oder in Glanz, nur um auf Wesen einzuwirken, von denen wir sehr wohl spüren, daß sie ihren Platz außerhalb unserer haben und niemals für uns erreichbar sind. Wenn ich also die Frau, die ich liebte, mir an Stätten erträumte,nach denen mich damals am stärksten verlangte, wenn ich mir wünschte, daß sie mich zu ihnen hinführe, mir eine unbekannte Welt erschließe, so lag das nicht einfach am Zufall einer bloßen Gedankenassoziation; nein, es kam vielmehr daher, daß meine Reise- und Liebesträume nur verschiedene Momente eines gleichen, durch nichts zu bändigenden Aufsprudelns aller meiner Lebenskräfte waren, die ich heute willkürlich trenne, als legte ich an verschieden hohen Stellen einen Schnitt durch einen in allen Farben spielenden und scheinbar unbeweglichen Wasserstrahl.
    Schließlich, wenn ich weiter von innen nach außen den verschiedenen nebeneinander bestehenden Zuständen meines Bewußtseins nachgehe und bevor ich zum realen Horizont komme, der sie umschloß, stoße ich noch auf ein Vergnügen anderer Art: angenehm zu sitzen, die gute Luft zu spüren und durch keinen Besuch behelligt zu werden; jenes auch, zu sehen, wie bei jedem Stundenschlag vom Turm von Saint-Hilaire die bereits vergangene Zeit des Nachmittags Stück für Stück herunterfiel, bis ich den letzten Schlag hörte, der mir gestattete, die Summe festzustellen; das Schweigen, das darauf folgte, schien im Himmelsblau dann der Anfang jener Frist zu sein, die mir für meine Lektüre noch blieb bis zu dem guten Abendessen, das Françoise bereitete und das mir Erholung von den Anstrengungen bringen würde, die ich bei meiner Lektüre an der Seite meines Helden hatte mitmachen müssen. Bei jedem Stundenschlag aber schien es mir, als sei der vorhergehende eben erst gefallen; die jüngstverflossene Stunde stand noch ganz nah der anderen am Himmel, und ich konnte nicht glauben, daß sechzig Minuten in dem durchmessenen kleinen blauen Bogen zwischen den beiden goldenen Markierungen Platz gehabt haben sollten. Manchmal zeigte sich diese vorzeitige Stunde sogar mit zweiSchlägen mehr an als die vorige; eine hatte ich also überhört; etwas, das stattgefunden hatte, hatte für mich nicht stattgefunden; das Interesse an der Lektüre, die so magisch wirkte wie ein tiefer Schlaf, hatte meine halluzinierten Ohren abgelenkt und den goldenen Glockenton auf der azurnen Fläche des Schweigens einfach ausgelöscht. Schöne Sonntagnachmittage unter dem Kastanienbaum im Garten von Combray, aus denen ich für meinen Gebrauch so sorgfältig alle mittelmäßigen Züge meiner persönlichen Existenz herausgenommen und durch ein Leben reich an Abenteuern und voll

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