Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
merkwürdiger Unternehmungen inmitten einer von lebendigen Wassern durchströmten Landschaft ersetzt hatte, ihr macht noch einmal diese Vergangenheit lebendig für mich, wenn ich an euch denke, und ihr enthaltet sie ja auch wirklich, da ihr sie – während ich in meiner Lektüre fortfuhr und die Hitze des Tages langsam ermattete – nach und nach umfaßt und in das ständig fortschreitende, langsam sich wandelnde, laubdurchzitterte Kristall eurer schweigenden, klingenden, duftenden, durchscheinenden Stunden eingeschlossen habt.
Manchmal wurde ich mitten am Nachmittag aus meiner Lektüre gerissen durch die Gärtnerstochter, die wie verrückt dahergelaufen kam, unterwegs ein Orangenbäumchen umwarf, sich dabei in den Finger schnitt oder einen Zahn ausschlug und rief: »Sie kommen, sie kommen!«, damit auch Françoise und ich herbeieilten und uns nichts von dem Schauspiel entginge. Das war an den Tagen, wenn die Truppe für ein Manöver der ganzen Garnison durch Combray zog, und zwar gewöhnlich durch die Rue Sainte-Hildegarde. Während unsere Dienstboten auf Stühlen aufgereiht vor dem Gartentor saßen, den Sonntagsspaziergängern von Combray zuschauten und sich ihnen zeigten, hatte die Gärtnerstochter durch den Spalt zwischen zwei weit entfernt in derAvenue de la Gare gelegenen Häusern die Helme blitzen sehen. Die Dienstboten hatten schleunigst ihre Stühle hineingetragen, denn wenn die Kürassiere durch die Rue Sainte-Hildegarde kamen, füllten sie sie in ganzer Breite aus; die galoppierenden Pferde strichen dicht an den Häuserwänden entlang, und die Bürgersteige verschwanden unter der Flut wie Böschungen unter einem entfesselten Strom.
»Die armen Kinder«, meinte Françoise, die, kaum stand sie am Gartentor, bereits in Tränen war; »diese arme Jugend, da wird sie dahingemäht wie Gras; wenn ich nur daran denke, gibt es mir einen Stich«, fügte sie hinzu und legte ihre Hand auf das Herz, dahin, wo sie den »Stich« verspürte.
»Es ist doch etwas Schönes, nicht wahr, Madame Françoise, wenn man junge Leute sieht, die nicht am Leben hängen?« meinte der Gärtner, um sie »auf die Palme zu bringen«.
Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht: »Nicht am Leben hängen? Aber woran soll man denn hängen, wenn nicht am Leben, wo es doch das einzige Geschenk ist, das der liebe Gott uns nicht zweimal macht. Ach, du lieber Himmel! Aber es ist schon richtig, sie hängen nicht daran! Ich habe sie Anno siebzig gesehen; wenn so ein elender Krieg ausbricht, haben sie keine Angst vor dem Tod; mehr oder weniger sind sie dann alle verrückt; und sie sind auch den Strick nicht mehr wert, an dem man sie aufhängen müßte; das sind keine Menschen mehr, das sind Leuen.« (Für Françoise lag in dem Vergleich eines Menschen mit einem Löwen – mit einem »Leu« – nämlich nichts Schmeichelhaftes.)
Die Rue Sainte-Hildegarde machte eine zu starke Biegung, als daß man weit sehen konnte, und so nahm man nur durch den bewußten Zwischenraum zwischen den Häusern in der Avenue de la Gare den in der Sonneblitzenden Zug der sich stets erneuernden Helme wahr. Der Gärtner hätte gern gewußt, ob noch viele kämen, er hatte Durst, und die Sonne brannte. Da stürzte sich auf einmal seine Tochter, als bräche sie aus einer belagerten Festung aus, bis zur Straßenecke, und nachdem sie hundertmal dem Tod getrotzt hatte, kam sie und brachte uns mit einer Flasche Lakrizenwasser die Nachricht zurück, daß es sicher tausend wären, die von der Seite von Thiberzy und Méséglise pausenlos heranmarschierten. Françoise und der Gärtner hatten sich inzwischen wieder versöhnt und tauschten jetzt ihre Ansichten darüber aus, wie man sich im Kriegsfall zu verhalten hätte:
»Sehen Sie, Françoise«, äußerte sich der Gärtner, »Revolution ist besser, weil dann nur die marschieren, die wirklich wollen.«
»Ja, ja«, meinte sie, »das versteht man noch, das ist auch ehrlicher.«
Der Gärtner war der Ansicht, daß im Kriegsfall sämtliche Eisenbahnen angehalten würden.
»Natürlich, daß keiner ausrücken kann«, pflichtete Françoise bei.
»Ja, die sind schlau!« setzte der Gärtner hinzu, denn für ihn war es ausgemacht, daß der Krieg eine Art von üblem Streich ist, den der Staat dem Volk zu spielen versucht, und daß, wenn irgend möglich, jeder sich drücken würde.
Nun aber beeilte sich Françoise, wieder zu meiner Tante zu kommen, ich kehrte zu meinem Buch zurück, und die Dienstboten nahmen ihre Plätze vor dem Gartentor
Weitere Kostenlose Bücher