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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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beschützte, durch die ein Lichtstrahl dennoch seine gelben Flügel hatte schieben können, um wie ein ruhender Schmetterling unbeweglich zwischen dem Holz der Jalousien und der Fensterscheibe zu verharren. Es war kaum hell genug zum Lesen, und das Gefühl von dem Glanz des Lichts draußen wurde mir nur durch die von der Rue de la Cure heraufkommenden Hammerschläge gegeben, die Camus (auf Françoises Hinweis, daß meine Tante zur Zeit nicht »ruhte« und man also Lärm machen könne) auf staubige Kisten niederfallen ließ, die aber, wenn sie in der hallenden, für heiße Tage typischen Atmosphäre ertönten, weithin scharlachrote Funken aufsprühen zu lassen schienen; und auch durch die Fliegen, die vor mir mit ihrem kleinen Konzert sozusagen sommerliche Kammermusik aufführten; bei dieser wird der Sommer nicht – wie es bei menschlicher Musik geschieht, wenn eine Weise, die man zufälligerweise in der warmen Jahreszeit gehört hat, diese einem dann in Erinnerung ruft – einfach evoziert: sie ist durch ein zwingenderes Band mit ihm verbunden; in den schönen Tagen entstanden, nur mit ihnen wiedererstehend und etwas von ihrer Substanz enthaltend, führt sie nicht nur die Vorstellung davon in unserem Gedächtnis herauf, sondern bestätigt vielmehr ihre Wiederkehr als tatsächliche, unmittelbar uns umwebende, greifbare Gegenwart.
    Diese dunkle Kühle meines Zimmers verhielt sich zur besonnten Straße wie der Schatten zum Lichtstrahl, das heißt, sie enthielt ebenso viel Helligkeit wie jene, und sie schenkte mir in der Phantasie das volle Schauspiel des Sommers, von dem meine Sinne auf einem Spaziergang nur jeweils Teilaspekte hätten genießen können; und dadurch paßte sie gut zu meiner Ruhe, die (dank den inmeinen Büchern erzählten, mich im Inneren bewegenden Abenteuern) wie eine Hand, die man regungslos in fließendes Wasser hält, den Anprall und die Erregung eines Stroms von Aktivität aushielt.
    Meine Großmutter kam, sogar wenn die allzu große Hitze in schlechtes Wetter umgeschlagen, ein Gewitter oder bloß ein Schauer niedergegangen war, und beschwor mich, ins Freie zu gehen. Da ich aber auf meine Lektüre nicht verzichten wollte, beschloß ich, sie im Garten fortzusetzen, und zwar unter dem Kastanienbaum in einer kleinen Baracke aus Sparterie und Segeltuch, in deren hinterstem Winkel ich den Augen der Personen zu entgehen glaubte, die vielleicht meine Eltern besuchten.
    Und war nicht die Welt meiner Gedanken selbst eine Art Krippe, ein Raum, in dessen Tiefe ich sogar auch dann geborgen blieb, wenn ich einen Blick auf die Dinge warf, die sich draußen zutrugen? Sobald ich einen Gegenstand außerhalb meiner wahrnahm, stellte sich das Bewußtsein, daß ich ihn sah, trennend zwischen mich und ihn, umgab ihn mit einer geistigen Schicht, die mich hinderte, jemals unmittelbar seine Substanz zu berühren; vielmehr verflüchtigte diese sich gleichsam, bevor ich in direkten Kontakt mit ihm treten konnte, so wie ein glühender Körper, den man an etwas Feuchtes hält, niemals die Feuchtigkeit selbst berührt, weil dazwischen immer eine Dunstzone liegt. Auf der Art von Schirm, wo, während ich las, bunt schillernd die von meinem Bewußtsein gleichzeitig entfalteten Zustände erschienen, angefangen bei den geheimsten, in meinem Inneren verborgenen Sehnsüchten bis hin zu der rein äußerlich wahrgenommenen Aussicht auf den Garten, den ich vor Augen hatte, bildeten – ganz gleich, welches Buch es gerade war – mein Glaube an den philosophischen Gehalt und die Schönheit des Buches, das ich las,sowie mein Verlangen, mir diese zu eigen zu machen, den unmittelbar vorgegebenen, tiefen Grundton, den ständig bewegten, alles regulierenden Hebel. Denn selbst wenn ich es in Combray, bei Borange, einem Krämerladen, der zu weit von uns entfernt lag, als daß Françoise dort hätte einkaufen können wie bei Camus, der aber als Papeterie und Buchhandlung eine reichere Auswahl bot, entdeckt und gekauft hatte – es hing dort an Schnürchen festgemacht im Mosaik aus Broschüren und Lieferungen, die die beiden Flügel der Eingangstür überdeckten, sie mit mehr Geheimnis umwoben, mit mehr Gedanken erfüllten, als im Portal einer Kathedrale geborgen sind –, hatte ich in ihm zuvor schon eines jener Werke wiedererkannt, die mir als bedeutend dargestellt worden waren, etwa von dem Lehrer oder dem Schulkameraden, der mir damals gerade das Geheimnis jener Wahrheit und Schönheit innezuhaben schien, die ich dunkel ahnte, noch kaum

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