Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
wieder ein, um den Staub und die Wogen der Erregung allmählich sich legen zu sehen, die die vorüberziehenden Soldaten aufgewirbelt hatten. Lange nachdem wieder Stille eingetreten war, blieben die Straßen Combrays noch schwarz vom ungewohnten Strom der Spaziergänger. Vor allen Häusern, selbst da, wodiese Gewohnheit sonst gar nicht bestand, hielten die Bedienten oder sogar die Herrschaften sitzend und schauend die Schwellen mit einem dunklen phantasievollen Saum besetzt, so wie eine Sturmflut den Strand mit einem muschelbestickten krausen Algenschleier am Rand zurückläßt, nachdem sie zurückgegangen ist.
Außer an solchen Tagen konnte ich gemeinhin ruhig lesen. Die Unterbrechung und der Kommentar jedoch, mit dem Swann einmal bei einem Besuch meine Lektüre versah, als ich gerade das Buch eines mir damals noch ganz neuen Autors, Bergotte 1 , las, hatte zur Folge, daß ich für lange Zeit das Bild der Frau meiner Träume nicht mehr vor einer mit hängenden violetten Blüten dekorierten Mauer sah, sondern auf einem ganz anderen Hintergrund, dem Portal einer gotischen Kathedrale.
Von Bergotte hatte ich zum ersten Male durch einen meiner Schulkameraden gehört, der älter als ich war und den ich sehr bewunderte: Bloch. 2 Als ich ihm meine Begeisterung für die »Nuit d’Octobre« von Musset gestand, war er in dröhnendes Gelächter ausgebrochen und hatte mir gesagt: »Nimm dich vor deiner ziemlich vulgären Vorliebe für diesen Sieur de Musset in acht. Das ist ein Bursche von der übelsten Sorte, ein ganz erbärmlicher Ungeist. Ich muß dir übrigens zugeben, daß er und auch ein gewisser Racine beide in ihrem Leben einen Vers geschmiedet haben, der im Rhythmus nicht übel ist und außerdem für sich hat, was in meinen Augen das höchste Verdienst ist, daß er gar nichts bedeutet. Ich meine: ›La blanche Oloossone et la blanche Camire‹ 3 und ›La fille de Minos et de Pasiphaé‹ 4 . Auf sie aufmerksam geworden bin ich – zur Entlastung dieser beiden Schurken – durch einen Artikel meines sehr verehrten Meisters, des guten Leconte 5 , Liebling der unsterblichen Götter. Übrigens habe ich hier ein Buch, für dessen Lektüre ich noch keine Zeit gefunden habe, dasaber, glaube ich, auch von diesem außerordentlichen Kerl empfohlen worden ist. Er hält, sagt man mir, den Verfasser, einen Sieur Bergotte, für einen ganz gewitzten Burschen, und obwohl er manchmal unerklärliche Milde walten läßt, bleibt sein Wort doch ein delphisches Orakel für mich. Lies also diese lyrische Prosa, und wenn der gigantische Türmer von Rhythmen, der ›Bhagavat‹ und ›Le lévrier de Magnus‹ 1 geschrieben hat, die Wahrheit spricht, so wirst du bei Apollon, lieber Meister, die Wonnen olympischen Nektars kosten.« In sarkastischem Tone hatte er mich gebeten, ihn mit »Meister« anzureden, und er nannte mich ebenso. In Wirklichkeit aber hatten wir ein gewisses Vergnügen an diesem Spiel, da wir noch nahe an dem Alter waren, da man zu erschaffen glaubt, was man benennt.
Im Gespräch mit Bloch, als ich ihn um nähere Erklärungen bat, gelang es mir unglücklicherweise nicht, die Unruhe zu beschwichtigen, in die er mich mit seiner Bemerkung gestürzt hatte, die schönen Verse (von denen ich nichts Geringeres erwartete als die Offenbarung der Wahrheit!) seien um so schöner, als sie überhaupt nichts bedeuteten. Bloch wurde tatsächlich kein zweites Mal zu uns eingeladen. Zunächst war er freundlich aufgenommen worden. Mein Großvater behauptete allerdings, daß es jedesmal, wenn ich mich mit einem Kameraden näher angefreundet habe und ihn zu uns ins Haus bringe, ein Jude sei, wogegen er grundsätzlich nichts einzuwenden hatte – sogar sein Freund Swann war jüdischer Herkunft –, doch glaubte er festgestellt zu haben, daß ich sie gewöhnlich nicht unter den besten wähle. Wenn ich also einen neuen Freund mitbrachte, kam es nicht selten vor, daß er vor sich hinsummte: »Ô Dieu de nos Pères« aus La Juive 2 oder »Israël romps ta chaîne« 3 , wobei er natürlich nur die Melodie trällerte (Tim talam talam, talim), ich aber jedesmal Angst hatte,mein Freund könnte die Melodie kennen und den Text in Gedanken einsetzen.
Bevor er sie noch gesehen hatte, beim bloßen Hören ihres Namens, der oft gar nichts spezifisch Jüdisches hatte, erriet er nicht nur die jüdische Herkunft derjenigen meiner Freunde, bei denen es wirklich zutraf, sondern auch, was manchmal sonst in ihrer Familie nicht stimmte.
»Wie heißt denn dein neuer
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