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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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dergleichen sah. Kommt es denn nicht alle Tage vor, daß ein Freund uns bittet, ihn auf alle Fälle bei einer Frau zu entschuldigen, der er aus irgendwelchen Gründen nicht hat schreiben können, wir aber es in der Meinung unterlassen, daß niemand einem Schweigen solche Wichtigkeit beilegen könne, die es für uns in keiner Weise hat? Wie die meisten Leute bildete ich mir ein, das Hirn der anderen sei ein neutrales, immer empfangsbereites Gef äß ohne spezifisches Reaktionsvermögen gegenüber dem, womit man es füllt; ich ahnte nicht, daß ich meinen Eltern, als ich in das ihre die Nachricht von der neuen Bekanntschaft ergoß, die ich meinem Onkel verdankte, nicht gleichzeitig, wie ich es wollte, meine eigene wohlwollende Beurteilung dieser Begegnung miteinflößen konnte. Unglücklicherweise stützten sich meine Eltern, als sie sich über das Verhalten meines Onkels ein Urteil bildeten, auf Grundsätze, die völlig von denen abwichen, die ich ihnen nahelegen wollte. Mein Vater und mein Großvater hatten mit ihm lebhafte Auseinandersetzungen; ich wurde mittelbar davon in Kenntnis gesetzt. Ein paar Tage später begegnete ich in der Stadt meinem Onkel, der im offenen Wagen vorüberfuhr, und empfand bei seinem Anblick Schmerz, Dankbarkeit und Reue, die ich ihm gern zum Ausdruck gebracht hätte. Neben dem gewaltigen Ausmaß dieser Gefühle schien mir ein bloßes Hutabnehmen etwas viel zu Geringfügiges; ich fürchtete, mein Onkel könnedaraus entnehmen, ich hielte mich ihm gegenüber nur noch an die billigsten Formen der Höflichkeit. Ich beschloß daraufhin, diese Geste lieber zu unterlassen, und sah weg. Mein Onkel glaubte, ich befolge hiermit die Anweisung meiner Eltern, er verzieh es ihnen nie und starb Jahre darauf, ohne daß irgend jemand von uns ihn je wiedergesehen hätte.
    So kam ich also nicht mehr in Onkel Adolphes nunmehr verschlossenes Ruhegemach, sondern kehrte – nachdem ich im Bezirk des Küchenanbaus verweilt hatte, bis Françoise mit den Worten: »Ich lasse jetzt das Küchenmädchen den Kaffee servieren und das heiße Wasser hinaufbringen, ich muß zu Madame Octave« auf dem Vorplatz erschien – ins Haus zurück und stieg, um zu lesen, direkt in mein Zimmer hinauf. 1 Das Küchenmädchen war sozusagen eine juristische Person, eine ständige Einrichtung, der einige unveränderliche Attribute eine gewisse Kontinuität und Identität gewährleisteten durch eine Reihe vorübergehender Verkörperungen hindurch, unter denen sie erschien: denn wir hatten niemals zwei Jahre hintereinander dasselbe. In dem Jahr, als wir so oft Spargel aßen, war das Küchenmädchen, das sie gemeinhin zu schälen hatte, ein armes kränkliches Geschöpf in bereits fortgeschrittenem Zustand der Schwangerschaft, als wir Ostern ankamen, und alle wunderten sich eher, daß Françoise sie so viele Gänge und Besorgungen machen ließ, denn sie begann allmählich schwerer an der geheimnisvollen Last zu tragen, deren immer schwellendere Form man unter ihren weiten Kitteln erriet. Diese selbst erinnerten an die Houppelanden, die gewisse allegorische Gestalten bei Giotto tragen, deren Photographien mir Swann geschenkt hatte. Er selbst hatte uns darauf aufmerksam gemacht, und wenn er nach dem Ergehen des Küchenmädchens fragte, sagte er jedesmal: »Was macht die Caritas vonGiotto?« Angeschwollen durch ihre Schwangerschaft, glich übrigens das bedauernswerte Mädchen tatsächlich bis hin zum Gesicht, den Wangen, die gerade und breit abfielen, ziemlich genau jenen männlich wuchtigen Jungfrauen oder besser Matronen, die in der Arenakapelle die Tugenden personifizieren. 1 Jetzt weiß ich, daß die Tugenden und Laster von Padua ihr auch noch auf andere Weise glichen. So wie das Bild dieses Mädchens noch durch das hinzugefügte Symbol, das sie wie eine schwere Last einfach vor sich hertrug, erweitert schien, ohne daß sie offenbar seinen Sinn begriff oder ihr Gesicht etwas von seiner Schönheit und geistigen Bedeutung ausdrückte, ebenso scheint die derbe Wirtschafterin, die in der Arenakapelle unter dem Namen der »Caritas« erscheint und deren Reproduktion an der Wand meiner Studierstube in Combray hing, diese Tugend zu verkörpern, ohne etwas davon zu ahnen und ohne daß sich ein Gedanke an Nächstenliebe jemals auf ihrem kraftvollen und gewöhnlichen Antlitz hätte spiegeln können. Dank einer schönen Erfindung des Malers tritt sie die Schätze der Erde unter ihren Füßen, aber sie tut es genauso, als wenn sie Trauben träte, um den

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