Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Saft herauszupressen, oder, mehr noch, als wäre sie auf ein paar Säcke gestiegen, um höher hinaufzugelangen; und wenn sie Gott ihr Herz in Flammen darbietet, so reicht sie es ihm eigentlich in der Weise, wie eine Köchin einen Korkenzieher aus dem Kellerfenster jemandem hinhält, der, am Parterrefenster stehend, ihn von ihr haben will. Eher noch hätte man der Invidia einen gewissen Ausdruck von Neid im Gesicht zusprechen können. Doch auch in diesem Fresko nimmt das Symbol einen so großen Raum ein und wird so realistisch dargestellt, die Schlange, die zischend aus ihrem Munde fährt, ist so groß, füllt so ganz und gar den geöffneten Mund aus, daß sich ihre Gesichtsmuskeln, um sie umfassen zukönnen, überspannen, so wie die eines Kindes, das mit seiner Puste einen Ballon aufbläst, und daß die Aufmerksamkeit der Invidia – wie auch gleichzeitig die unsere – sich so sehr auf die Tätigkeit der Lippen konzentriert, daß sie kaum noch Zeit auf neidische Gedanken verwenden kann.
Trotz der großen Bewunderung, die Swann jenen Figuren Giottos entgegenbrachte, hatte ich doch lange Zeit kein Vergnügen daran, in unserer Studierstube, in der die Abzüge angeheftet waren, die er mitgebracht hatte, jene Caritas ohne Liebe zu betrachten oder jene Invidia, die nur wie eine Tafel in einem medizinischen Lehrbuch die Kompression der Stimmritze oder des Zäpfchens durch einen Zungentumor oder die Einführung eines chirurgischen Instruments zu veranschaulichen schien, eine Gerechtigkeit, deren graues, ausdrucklos regelmäßiges Gesicht genau das gleiche war, wie es in Combray gewissen hübschen, frommen und gefühlsarmen Bürgersfrauen eignete, die ich bei der Messe traf und von denen mehrere bereits Anwärterinnen auf einen Platz im Reservekorps der Ungerechtigkeit waren. Später erst habe ich begriffen, daß die faszinierende Fremdheit, die besondere Schönheit dieser Fresken gerade darauf beruhte, daß in ihnen das Symbol einen so großen Raum einnahm und daß die Tatsache, daß es nicht als Symbol – da der versinnbildlichte Gedanke nicht als solcher ausgedrückt war –, sondern als Faktum dargestellt wurde, als wirklich erlebt und materiell gehandhabt, der Bedeutung des Werks etwas Wörtlicheres und Eindeutigeres und der Lehre, die man daraus zog, etwas Konkreteres und Überzeugenderes verlieh. Wurde nicht auch bei dem bedauernswerten Küchenmädchen die Aufmerksamkeit durch das Gewicht, das ihn hinunterzog, auf den Bauch gelenkt; und ebenso wendet sich auch sehr oft das Denken der Sterbendenganz der wirklichen, schmerzvollen, tiefen, körperlichen Seite, jener Kehrseite des Todes zu, die er ihnen darbietet, die er sie grausam spüren läßt und die viel mehr einer Last gleicht, unter der sie zusammenbrechen, einer Schwierigkeit zu atmen, einem Bedürfnis zu trinken, als dem, was wir die »Idee des Todes« nennen.
Die Tugenden und Laster von Padua mußten schon einen großen Wirklichkeitsgehalt besitzen, daß sie mir ebenso lebendig vorkommen konnten wie die schwangere Dienstmagd und daß diese mir kaum weniger allegorischen Sinn als jene zu haben schien. Und vielleicht repräsentiert auch die – wenigstens scheinbare – Nichtteilnahme der Seele eines Menschen an der Tugend, die durch ihn hindurch wirkt, außer ihrem ästhetischen Wert noch eine wenn nicht psychologische, so doch, wie man sagt, physiognomische Wirklichkeit. Wenn ich später im Laufe meines Lebens, in Klöstern etwa, Gelegenheit hatte, wirklich heiligen Personifizierungen der tätigen Nächstenliebe zu begegnen, dann hatten diese im allgemeinen das muntere, positive, gleichgültige und etwas schroffe Gebaren des eiligen Chirurgen an sich und ein Gesicht, auf dem kein Mitgefühl, kein Gerührtsein gegenüber dem menschlichen Leiden zu lesen stand, freilich auch keine Furcht, daran zu rühren, kurz, sie zeigten die Züge ohne Sanftmut, das unsympathische, erhabene Antlitz der wahren Güte.
Während das Küchenmädchen – das damit unwillkürlich die Überlegenheit von Françoise um so heller erstrahlen ließ, so wie der Irrtum durch den Gegensatz den Triumph der Wahrheit augenfälliger macht – Kaffee servierte, der nach Mamas Feststellung nur heißes Wasser, und darauf in unsere Schlafzimmer heißes Wasser trug, das kaum lauwarm war, lag ich mit einem Buch in der Hand auf dem Bett in meinem Zimmer 1 , das zitterndseine durchsichtige, zerbrechliche Kühle gegen die Nachmittagssonne hinter den beinahe völlig geschlossenen Fensterläden
Weitere Kostenlose Bücher