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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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zuzuhören, »dem Unterrichtsministerium anzugehören noch dem Volney (ich gehöre nur zum Cercle de l’Union 4 und zum Jockey-Club), Sie sind nicht Mitglied des Jockey, Monsieur?« fragte er den Historiker, der noch mehr errötete und, da er eine Unverschämtheit vermutete, sie aber nicht verstand, an allenGliedern zu zittern begann, »und der ich nicht einmal bei Monsieur Émile Ollivier diniere, muß zugeben, daß ich ›Mentalität‹ nicht kannte. Ich bin sicher, Ihnen, Argencourt, geht es ebenso. Sie wissen doch, weshalb man die Beweise für Dreyfus’ Verrat nicht vorlegen kann. Offenbar ist er der Liebhaber der Frau des Kriegsministers, so jedenfalls wird gemunkelt.«
    »Ah! Und ich glaubte von der Frau des Ministerpräsidenten«, sagte d’Argencourt.
    »Ich finde Sie alle furchtbar langweilig mit dieser Affäre«, sagte die Herzogin von Guermantes, die aus gesellschaftlichen Gründen Wert darauf legte, immer zu zeigen, daß sie in ihrer Meinung ganz unabhängig war. »Für mich hat sie jedenfalls, was den Umgang mit Juden betrifft, keinerlei Bedeutung, aus dem einfachen Grund, weil ich keine kenne und in dieser glückseligen Lage auch zu bleiben gedenke. Auf der anderen Seite aber finde ich unerträglich, wie uns jetzt unter dem Vorwand, daß sie loyal sind, nichts in jüdischen Geschäften kaufen und ›Tod den Juden‹ auf ihren Sonnenschirm schreiben, eine Unzahl von Damen Durand oder Dubois, die wir sonst niemals gekannt hätten, von Marie-Aynard oder Victurnienne 1 zugemutet werden. Vorgestern war ich bei Marie-Aynard. Früher war es reizend bei ihr. Jetzt setzt sie einem all die Leute vor, um die man sein Leben lang einen Bogen gemacht hat, unter dem Vorwand, sie seien gegen Dreyfus, und daneben trifft man bei ihr noch andere, von denen man keine Ahnung hat, wer sie sind.«
    »Nein, es handelt sich um die Frau des Kriegsministers. Wenigstens läuft das Gerücht durch die Alkoven«, nahm der Herzog das Thema wieder auf, denn er verwendete im Gespräch gewisse Ausdrücke, die er dem Ancien régime zuschrieb. »Schließlich, was mich betrifft, so weiß man jedenfalls, daß ich völlig anders denke als meinCousin Gilbert. Ich bin kein Feudalherr wie er, ich würde mit einem Neger spazierenfahren, wenn er zu meinen Freunden gehörte, und mich um die Meinung von dem und jenem den Teufel kümmern, aber schließlich müssen Sie mir immerhin zugeben, daß man sich, wenn man Saint-Loup heißt, nicht die Zeit damit vertreibt, das genaue Gegenteil dessen zu vertreten, was alle Welt denkt, die mehr Verstand als Voltaire und sogar als mein Herr Neffe besitzt. Vor allem aber läßt man sich nicht zu dem herbei, was ich Gefühlsakrobatik nennen möchte, noch dazu acht Tage, bevor über die Aufnahme in den Club entschieden wird! Das ist denn doch ein zu starkes Stück! Nein, vermutlich hat seine kleine Schnalle ihn aufgehetzt. Sie hat ihm wahrscheinlich eingeredet, daß er damit zur Klasse der ›Intellektuellen‹ gehören würde. Die Intellektuellen sind nämlich das große Thema jener Herren. Übrigens gibt es dazu ein hübsches, aber sehr böses Wortspiel.«
    Und der Herzog zitierte leise, nur für die Herzogin und d’Argencourt bestimmt: Mater semita 1 , was tatsächlich schon im Jockey-Club umlief, denn von allen Flugsamen sind diejenigen, deren Flügel so solide festgemacht sind, daß sie denkbar weit von ihrem Entstehungsort noch ausgestreut werden, Scherze dieser Art.
    »Wir könnten ja den Herrn dort um Aufklärung bitten, der aussieht wie eine Art Blaustrumpf«, sagte er, indem er auf den Historiker wies. »Aber besser ist, man spricht nicht davon, um so mehr als die Sache selbst überhaupt nicht stimmt. Ich bin nicht so ehrgeizig wie meine Kusine Mirepoix, die behauptet, sie könne ihre Familie bis in die Zeit vor Christi Geburt und auf den Stamm Levi 2 zurückverfolgen, mache mich jedoch anheischig zu beweisen, daß es in meiner Familie niemals einen Tropfen jüdischen Blutes gegeben hat. Aber wir dürfen uns am Ende trotzdem nichts vormachen: ganz gewißkönnen die reizenden Meinungen meines Herrn Neffen einigen Lärm in Landerneau 1 verursachen. Um so mehr, als Fezensac krank ist, so daß Duras alles leiten wird, und man weiß ja, was für ein Schaumschläger der ist«, sagte der Herzog, der den genauen Sinn gewisser Wörter nie hatte begreifen können, und meinte, ein Schaumschläger sei nicht ein Wichtigtuer, sondern ein Umstandskrämer.
    »Auf alle Fälle, sollte dieser Dreyfus unschuldig sein«,

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