Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
eine Illusion von Macht verschaffte,das Fasten und die Anstrengungen eines so früh begonnenen und ohne Mittagsmahl verlaufenen Tages erfolgreich ausglich. In seinem ständigen Hin und Her zwischen der Ebene der Erfahrung und jener der Phantasie möchte der Mensch gern die Vorstellungswelt der Leute, die er kennt, ergründen und die Menschen, deren Leben er sich vorstellen mußte, kennenlernen. Auf die Fragen Blochs antwortete Norpois:
»Zwei Offiziere sind in die laufende Affäre verwickelt, von denen ich früher einen Mann (Monsieur de Miribel 1 ) habe sprechen hören, zu dessen Urteil ich stets größtes Vertrauen hatte und der große Stücke auf sie hielt: es handelt sich um Oberstleutnant Henry und Oberstleutnant Picquart.«
»Nur hat«, fiel Bloch ihm ins Wort, »die göttliche Athene, die Tochter des Zeus, in den Sinn eines jeden von ihnen das Gegenteil von dem gelegt, was in dem Sinn des anderen ist. Wie zwei Löwen bekämpfen sie sich. Oberst Picquart nahm in der Armee eine große Stellung ein, doch hat ihn die Moira 2 auf die Seite geführt, die nicht die seinige war. Das Schwert der Nationalisten wird seinen zarten Leib zerteilen und ihn den gefräßigen Tieren und Vögeln zum Raub überlassen, deren Speise das Fett der Toten ist.«
Norpois gab keine Antwort.
»Worüber palavern die denn da in ihrer Ecke?« fragte Monsieur de Guermantes die Marquise, indem er auf Bloch und Norpois wies.
»Über die Dreyfus-Affäre.«
»Ei, den Teufel auch! Wissen Sie übrigens, wer ein blindwütiger Anhänger von Dreyfus ist? Ich wette eins zu hundert, daß Sie es nicht erraten: mein Neffe Robert! Ich kann Ihnen sogar sagen, daß es im Jockey-Club, als man dort von seinen Heldentaten erfuhr, einen richtigen Aufstand gegeben hat, sie haben Zeter und Mordiogeschrien. Da seine Aufnahme in acht Tagen auf der Tagesordnung steht … «
»Natürlich«, warf die Herzogin ein, »wenn sie alle so sind wie Gilbert, der immer der Meinung war, man müsse sämtliche Juden nach Jerusalem zurückschikken … «
»Oh! Dann sind wir uns ja vollkommen einig, der Fürst von Guermantes und ich«, ergriff d’Argencourt das Wort.
Der Herzog schmückte sich gern mit seiner Frau, aber er liebte sie nicht. Da er sehr »süffisant« war, haßte er, unterbrochen zu werden, zudem hatte er in seinem eigenen Haus die Gewohnheit, zu seiner Frau rücksichtslos zu sein. Nun stieg in ihm ein doppelter Zorn auf, jener des schlechten Ehemanns, dem man ins Wort fällt, und jener des Redekünstlers, dem man nicht zuhört; er brach kurz ab und warf der Herzogin einen Blick zu, der alle umher in Verlegenheit brachte.
»Was überkommt Sie da, uns von Gilbert und Jerusalem zu erzählen?« entfuhr es ihm schließlich. »Darum geht es nicht. Aber«, setzte er in etwas beschwichtigterem Ton hinzu, »Sie müssen doch zugeben, wenn einer von uns im Jockey abgelehnt wird, noch dazu Robert, dessen Vater zehn Jahre hindurch Präsident gewesen ist, wäre das die Höhe. Was wollen Sie, meine Liebe, die Leute haben natürlich gestutzt und große Augen gemacht. Ich kann ihnen nicht einmal unrecht geben; Sie wissen, daß ich persönlich keine Rassenvorurteile habe, ich finde, das paßt nicht in unsere Zeit, und ich habe den Ehrgeiz, mit meiner Zeit zu gehen, aber schließlich, den Teufel auch! Wenn man Marquis de Saint-Loup heißt, ist man eben kein Dreyfus-Anhänger, was soll ich da noch sagen!«
Monsieur de Guermantes sprach die Worte »wenn man Marquis de Saint-Loup heißt« mit großer Emphase aus. Natürlich wußte er, daß es mehr bedeutete, »Herzog von Guermantes« zu heißen. Seine Eigenliebe neigtedenn auch dazu, die Überlegenheit des Titels eines Herzogs von Guermantes allzusehr zu betonen; jetzt aber trieben ihn vielleicht weniger die Regeln des guten Geschmacks als die Gesetze der Einbildungskraft dazu, dessen Bedeutung etwas zurückzustellen. Jeder sieht schön gefärbt, was er aus der Entfernung, was er bei anderen sieht. Denn die allgemeinen Gesetze, die für die Perspektive der Einbildungskraft gelten, sind für Herzöge ebenso verbindlich wie für andere Menschen. Und nicht nur die Gesetze der Einbildungskraft, sondern auch die der Sprache. Hier aber kamen das eine oder andere von den zwei Gesetzen der Sprache zur Anwendung. Das eine will, daß man sich wie die Menschen seiner eigenen geistigen Klasse ausdrückt und nicht wie die der Kaste, der man entspringt. Demzufolge konnte Monsieur de Guermantes, selbst wenn er vom Adel sprechen wollte, mit
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