Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
einem Pronunciamiento-General besteht bei uns gottlob nicht.«
    Es gelang Bloch nicht, das Gespräch auf die Frage nach Dreyfus’ Schuld zu bringen, noch von Norpois eine Prognose über den Ausgang des gegenwärtig zur Verhandlung stehenden Zivilprozesses zu erlangen. Dafür aber schien Norpois mit einem gewissen Vergnügen bei den Folgen dieses Urteilsspruchs zu verweilen.
    »Wenn es zu einer Verurteilung kommt«, sagte er, »wird sie wahrscheinlich kassiert, denn selten nur kommt es bei Prozessen mit so vielen Zeugenaussagen nicht zu Formfehlern, auf die die Verteidiger sich berufen können. Was nun die Szene des Prinzen von Orléans betrifft, so bezweifle ich sehr, ob sie ganz nach dem Geschmack seines Vaters gewesen ist.«
    »Sie meinen, Chartres 1 ist für Dreyfus?« fragte die Herzogin mit einem feinen Lächeln, runden Augen, rosigen Wangen, wobei sie die Nase kaum über ihren Teller mit Petit fours hob und eine schockierte Miene aufsetzte.
    »Durchaus nicht, ich wollte nur sagen, daß in der ganzen Familie 2 von dieser Seite her ein Sinn für Politik vorhanden ist, dessen nec plus ultra man an der bezaubernden Prinzessin Clémentine hat bewundern können und den ihr Sohn Prinz Ferdinand als ein kostbares Erbe übernommen hat. Der Fürst von Bulgarien hätte Esterházy jedenfalls nicht in die Arme geschlossen.«
    »Er hätte einem einfachen Soldaten den Vorzug gegeben«, murmelte Madame de Guermantes, die oft mit dem Bulgaren beim Fürsten von Joinville dinierte und ihm einmal, als er fragte, ob sie nicht eifersüchtig sei, zur Antwort gegeben hatte: »Doch, Hoheit, auf Ihre Armbänder.«
    »Gehen Sie heute abend nicht zum Ball bei Madame de Sagan?« 3 fragte Norpois Madame de Villeparisis, um derUnterhaltung mit Bloch endlich ein Ende zu machen. Bloch mißfiel dem Botschafter eigentlich nicht, denn er sagte uns später nicht ohne Naivität und bestimmt unter dem Eindruck der in Blochs Sprache zurückgebliebenen Spuren der neohomerischen Mode, die er im Grunde schon überwunden hatte: »Er ist ganz amüsant, mit seiner etwas antiquierten, etwas feierlichen Redeweise. Es fehlte nur noch, daß er sagte les doctes Sœurs wie Lamartine oder Jean-Baptiste Rousseau. 1 So etwas findet sich selten bei der heutigen Jugend und war schon selten in der vorhergehenden. Wir selbst waren seinerzeit eher romantisch.« Doch so speziell ihm sein Gesprächspartner auch schien, Norpois fand nunmehr doch, die Unterhaltung habe lange genug gedauert.
    »Nein, Monsieur, ich gehe nicht mehr auf Bälle«, antwortete sie mit einem reizenden Altfrauenlächeln. »Gehen Sie denn alle hin? Das paßt sich auch für Ihr Alter«, setzte sie mit einem Blick hinzu, der gleichzeitig Monsieur de Châtellerault, ihren Freund und Bloch umfaßte. »Eingeladen bin ich auch«, betonte sie in dem scherzhaften Vorgeben, sie bilde sich darauf etwas ein. »Man ist sogar persönlich gekommen, um mich einzuladen.« (»Man« war die Prinzessin von Sagan.)
    »Ich habe keine Einladungskarte«, sagte Bloch in dem Glauben, Madame de Villeparisis werde ihm eine anbieten und Madame de Sagan sich glücklich schätzen, den Freund einer Frau bei sich zu sehen, um deren Anwesenheit sie sich persönlich bemüht hatte.
    Die Marquise bemerkte nichts dazu, und Bloch bestand nicht weiter darauf, denn er hatte ein ernsteres Anliegen mit ihr zu besprechen, um dessentwillen er sich soeben die Erlaubnis zu einem nochmaligen Besuch am übernächsten Tage ausgebeten hatte. Da er gehört hatte, wie die beiden jungen Männer sagten, sie seien aus dem Cercle de la Rue Royale ausgetreten, in den jederbeliebige aufgenommen werde, wollte er Madame de Villeparisis bitten, ihm die Aufnahme dort zu ermöglichen.
    »Sind das nicht Leute mit ziemlich falschem Schick, und außerdem ziemliche Snobs, diese Sagans?« fragte er mit sarkastischer Miene.
    »Aber gar nicht, sie sind das Beste, was in dieser Sorte zu haben ist«, antwortete d’Argencourt, der sich sämtliche Pariser Witze zu eigen gemacht hatte.
    »Ach so«, bemerkte Bloch halb ironisch, »dann ist das also das, was man eine Festlichkeit nennt, eins der großen gesellschaftlichen Ereignisse der Saison!«
    Erheitert wandte Madame de Villeparisis sich an Madame de Guermantes:
    »Sag selbst, ist das ein großes gesellschaftliches Ereignis, der Ball bei Madame de Sagan?«
    »Mich muß man das nicht fragen«, gab die Herzogin ironisch zurück, »ich bin noch nicht so weit, daß ich weiß, was ein großes gesellschaftliches Ereignis ist.

Weitere Kostenlose Bücher