Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
fiel hier die Herzogin ein, »so beweist er es auf nicht sehr überzeugende Weise. Was für idiotische, emphatische Briefe schreibt er doch von seiner Insel! 2 Ich weiß nicht, ob Monsieur Esterhazy mehr taugt als er, aber er hat doch in der Art, wie er sich ausdrückt, einen ganz anderen Schick, ganz andere Farben. Die Anhänger von Monsieur Dreyfus werden sich kaum darüber freuen. Sie haben wirklich Pech, daß sie ihren Unschuldigen nicht auswechseln können.« 3 Alles lachte erheitert. »Haben Sie das Bonmot Orianes gehört«, wandte sich der Herzog erwartungsvoll fragend an Madame de Villeparisis. »Ja, ich finde ihn sehr witzig.« Das genügte dem Herzog nicht: »Nun, ich für meinen Teil finde ihn nicht witzig; oder vielmehr, es ist mir völlig egal, ob er witzig ist oder nicht. Ich mache mir überhaupt nichts aus Esprit.« D’Argencourt protestierte. »Er glaubt kein Wort von dem, was er sagt«, flüsterte die Herzogin. »Das kommt sicher daher, daß ich in der Kammer saß, wo ich glänzende Reden zu hören bekam, die nichts besagten. Da habe ich vor allem klare Logik schätzengelernt. Das ist wohl der Grund, weshalb ich nicht wiedergewählt wurde. Witz ist mir gleichgültig.« – »Basin, mein Lieber, spielen Sie sich doch nicht als Joseph Prudhomme 4 auf, Sie wissen ja genau, daß niemand mehr auf Esprit gibt als Sie.« – »Lassen Sie mich doch ausreden. Gerade weil ich für eine gewisse Art von Possen unempfänglich bin, schätze ich oft den Esprit, den meine Frau besitzt. Denn ergeht in der Regel von einer treffenden Beobachtung aus. Sie urteilt wie ein Mann, formuliert wie ein Schriftsteller.«
Bloch versuchte, Norpois auf Oberst Picquart zu bringen.
»Man kann unmöglich bestreiten«, erklärte Norpois, »daß seine Aussage absolut notwendig war. Ich weiß, daß wegen dieser Meinung, die ich vertrete, mehr als einer meiner Kollegen Zetermordio geschrien hat, aber meiner Ansicht nach war die Regierung verpflichtet, dem Obersten das Wort zu erteilen. Aus einer solchen Sackgasse kann man nicht mit einer einfachen Pirouette wieder heraushüpfen, oder man riskiert, ganz tief in den Dreck zu fallen. Was den Offizier selbst anbelangt, so hat seine Aussage in der ersten Verhandlung einen äußerst günstigen Eindruck hinterlassen. Wenn man ihn gesehen hat, wie er dastand in seiner hübschen Jägeruniform und in ganz schlichtem, freimütigem Ton erzählte, was er gesehen hatte, was er geglaubt hatte, und dann sagte: ›Bei meiner Soldatenehre‹« (hier erbebte die Stimme von Norpois in einem leichten, patriotischen Tremolo) »›ist dies meine aufrichtige Überzeugung‹, kann man nicht leugnen, daß es überaus eindrucksvoll war.«
Aha, er ist also für Dreyfus, da gibt es nicht den leisesten Zweifel mehr, dachte Bloch.
»Was ihm aber die Sympathien gründlich verscherzt hat, die er zunächst auf sich zu ziehen vermochte, war seine Gegenüberstellung mit dem Archivar Gribelin 1 , als man nämlich diesen treuen Diener des Vaterlandes, für den es nur ein Ja oder Nein gibt, hörte und mitanschaute« (Norpois versah die folgenden Worte mit dem inbrünstigen Akzent der ehrlichen Überzeugung), »wie er seinem Vorgesetzten furchtlos die Stirn bot und in einem Ton, der keine Widerrede duldete, zu ihm sagte:›Herr Oberst, Sie wissen, ich habe niemals gelogen, Sie wissen, ich bleibe auch in diesem Augenblick wie stets und immer bei der Wahrheit.‹ Nun drehte sich der Wind, und Oberst Picquart mochte in den nächsten Verhandlungen Himmel und Erde in Bewegung setzen, letzten Endes erlitt er doch ein Fiasko.«
Nein, entschieden ist er Dreyfus-Gegner, das ist sonnenklar, sagte sich Bloch. Aber wenn er Picquart für einen Verräter hält, der lügt, wie kann er dann seine Enthüllungen doch in Betracht ziehen und sie schildern, wie wenn er sie bemerkenswert fände und für aufrichtig hielte? Und wenn er hingegen einen Gerechten in ihm sieht, der sein Gewissen erleichtert, wie kann er dann vermuten, daß er bei der Gegenüberstellung mit Gribelin gelogen hat?
Vielleicht sprach Monsieur de Norpois deswegen in dieser Art mit Bloch, als wären sie einer Meinung, weil er so leidenschaftlich gegen Dreyfus war, daß er fand, die Regierung sei es nicht genug, und ihr ebenso feindlich gegenüberstand wie die Dreyfus-Anhänger. Vielleicht auch, weil er sich in der Politik für tiefgründigere Dinge interessierte, die auf einer ganz anderen Ebene lagen, so daß er von dieser Warte aus die Dreyfus-Affäre nur als eine
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