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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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seiner Ausdrucksweise dem untersten Kleinbürgertum seinen Tribut zollen, wo man gesagt hätte: »Wenn man Herzog von Guermantes heißt«, während ein Mann von höherer Bildung, ein Swann, ein Legrandin sich nicht so ausgedrückt hätten. Ein Herzog kann Spießerromane schreiben, selbst wenn sie das Leben der großen Welt zum Gegenstand haben, da hier Adelsbriefe von keinem Nutzen sind, und die Schriften eines Plebejers können dagegen das Beiwort »aristokratisch« verdienen. Welches in diesem Fall der Bourgeois war, den Monsieur de Guermantes hatte sagen hören: »Wenn man soundso heißt«, wußte er sicherlich nicht. Ein anderes Gesetz der Sprache besteht indessen darin, daß von Zeit zu Zeit, so wie gewisse Krankheiten auftauchen und wieder verschwinden, von denen man später nichts mehr hört, auf unerklärliche Weise, sei es spontan, sei es durch einen Zufall – wie dem, der in Frankreich ein amerikanisches Unkraut sprießen ließ, dessen Same sich im Plüsch einer Reisedecke verfangen hatte und auf die Eisenbahnböschunggefallen war – Ausdrücke in Mode kommen, die man innerhalb desselben Jahrzehnts von Leuten hört, die sich darüber nicht verständigt haben. Ebenso nun, wie ich in einem bestimmten Jahr Bloch, der von sich selbst sprach, sagen hörte, daß »die charmantesten, die glänzendsten, die bestsituierten, die anspruchsvollsten Leute festgestellt haben, es gebe einen einzigen Menschen, den sie intelligent und angenehm finden, den sie nicht missen mögen, nämlich Bloch«, und den gleichen Satz aus dem Mund vieler anderer junger Männer vernahm, die ihn nicht kannten und Bloch nur durch ihren eigenen Namen ersetzten, sollte ich auch oft dieses »wenn man … heißt« zu hören bekommen.
    »Was wollen Sie«, fuhr der Herzog fort, »bei dem Geist, der dort herrscht, ist das ganz begreiflich.«
    »Es ist vor allem lustig«, antwortete die Herzogin, »wenn man bedenkt, welche Ansichten seine Mutter hat, die uns mit der ›Patrie française‹ 1 von morgens bis abends anödet.«
    »Ja, aber es ist nicht nur seine Mutter. Sie dürfen uns da keine faulen Fische auftischen. Es gibt da eine Jungfer, eine Lebedame von der schlimmsten Sorte, die mehr Einfluß auf ihn hat und ausgerechnet eine Landsmännin dieses Herrn Dreyfus ist. Sie hat mit ihrer Denkweise Robert angesteckt.«
    »Sie wissen vielleicht nicht, Durchlaucht, daß es jetzt ein neues Wort für solcherlei Denkarten gibt«, sagte der Archivar, der Sekretär der antirevisionistischen Komitees war. »Man sagt neuerdings ›Mentalität‹. 2 Das bedeutet genau das gleiche, aber dafür weiß niemand, was es heißen soll. Es ist das Feinste vom Feinen, der, wie man sagt, ›letzte Schrei‹.«
    Er hatte inzwischen den Namen von Bloch erfahren; als er nun sah, wie dieser Norpois mit Fragen überhäufte, geriet er in eine Unruhe, die bei der Marquise eineandersgeartete, aber ebenso heftige hervorrief. Sie zitterte nämlich vor dem Archivar und gab sich vor ihm als Dreyfus-Gegnerin aus, so daß sie jetzt seine Vorwürfe fürchtete, wenn er sich darüber klar würde, daß sie einen mehr oder weniger mit dem »Syndicat« 1 verbundenen Juden empfangen hatte.
    »Aha! ›Mentalität‹ – das muß ich mir notieren, damit ich es auch brauchen kann«, sagte der Herzog. (Das war keine rhetorische Floskel, denn er besaß tatsächlich ein kleines mit »Zitaten« angefülltes Heft, das er vor großen Diners durchzulesen pflegte.) »›Mentalität‹ ist gut. Es gibt da immer wieder neue Wörter, die in Umlauf kommen, aber nicht alle halten sich. Neulich habe ich gelesen, daß ein Schriftsteller als ›talentiert‹ bezeichnet wurde. Das soll einer verstehen. »Ich bin allerdings seither nicht wieder darauf gestoßen.«
    »›Mentalität‹ wird aber häufiger gebraucht als ›talentiert‹«, sagte der Historiker der Fronde, um bei der Unterhaltung mitzutun. »Ich bin Mitglied einer Kommission im Unterrichtsministerium, da habe ich es schon mehrere Male gehört, auch in meinem Club, dem Volney 2 , und sogar bei einem Diner bei Monsieur Émile Ollivier.« 3
    »Ich, der ich nicht die Ehre habe, dem Unterrichtsministerium anzugehören«, antwortete der Herzog in geheuchelter Bescheidenheit, aber mit so abgrundtiefer Eitelkeit, daß sein Mund wider Willen lächelte und seine Augen den Anwesenden vor Vergnügen funkelnde Blicke zuwarfen, unter deren Ironie der arme Historiker errötete, »ich, der ich nicht die Ehre habe«, fing er nochmals an und genoß es, sich

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