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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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direkt auf dem Altar, wo er inmitten der Leuchter und heiligen Gef äße seine horizontal miteinander verbundenen Zweige ausbreitete: eine festliche Appretur, verziert durch die Festons ihres Laubes, das einer Brautschleppe gleich mit kleinen Sträußen von leuchtend weißen Knospen übersät war. Auch wenn ich sie nur verstohlen anzublicken wagte, spürte ich doch, daß diese feierlichen Zurüstungen lebendig waren und daß die Natur selbst, als sie die Einschnitte in den Blättern schuf und zuletzt die Verzierung dieser weißen Knospen hinzufügte, eine würdige Ausschmückung bereitet hatte für das, was zugleich ein Volksfest und eine mystische Feier war. Weiter oben öffneten sich hier und da mit unbekümmerter Grazie ihre Krönchen, und wie einen zuallerletzt angebrachten, duftigen Putz trugen sie das Sträußchen der Staubgef äße, die, fein wie Marienfäden, sie rundum verschleierten, auf eine derart ungezwungene Weise, daß ich, als ich in meinem Innern der Gebärde ihres Aufblühens zu folgen, sie nachzuahmen versuchte, mir sie als die leichtfertige, rasche Kopfbewegung, den koketten Blick, die verengten Pupillen eines unbeteiligten, lebhaften jungen Mädchens in Weiß vorstellte. 1 Vinteuil und seine Tochter hatten sich neben uns gesetzt. Aus gutem Hause stammend, war er der Klavierlehrer der Schwestern meiner Großmutter gewesen, und als er sich nach dem Tod seiner Frau aufgrund einer Erbschaft in der Nähe von Combray angesiedelt hatte, wurde er oft zu uns eingeladen. Da er aberaußerordentlich prüde war, hatte er seine Besuche eingestellt, um Swann nicht zu begegnen, der eine – wie er sich ausdrückte – »unpassende Ehe, wie das heute so üblich ist«, geschlossen hatte. Meine Mutter, die erfahren hatte, daß er komponierte, hatte ihm aus Freundlichkeit gesagt, er müsse ihr, wenn sie ihn besuchen käme, etwas von sich vorspielen. Vinteuil hätte das mit dem größten Vergnügen getan, aber er trieb die Höflichkeit und Herzensgüte so weit, daß er sich immer in die Lage der anderen versetzte und dann fürchtete, sie zu langweilen und egoistisch zu scheinen, wenn er seinen Wünschen nachgäbe oder sie auch nur verriete. An dem Tag, als meine Eltern ihm einen Besuch machen gingen, begleitete ich sie zwar, aber sie erlaubten mir, draußen auf sie zu warten; da das Haus Vinteuils, Montjouvain, unten an einem kleinen, mit Gebüsch bewachsenen Hügel lag, auf dem ich verborgen saß, befand ich mich auf gleicher Höhe mit dem Salon im zweiten Stock, etwa fünfzig Zentimeter vom Fenster entfernt. Als meine Eltern ihm gemeldet wurden, hatte ich gesehen, wie Vinteuil eiligst sichtbar auf das Klavier ein Musikstück legte. Beim Eintreten meiner Eltern aber hatte er es rasch wieder fortgenommen und in eine Ecke geschoben. Sicher hatte er gefürchtet, sie würden meinen, er freue sich nur über ihren Besuch, weil er dadurch Gelegenheit habe, ihnen seine Kompositionen vorzuspielen. Und jedesmal, wenn meine Mutter im Laufe ihres Besuches wieder davon angefangen hatte, wiederholte er: »Aber ich weiß gar nicht, wie das auf das Klavier gekommen ist, es gehört da gar nicht hin«, und hatte das Gespräch gerade deshalb auf andere Dinge gelenkt, weil diese ihn weniger interessierten. Seine einzige Leidenschaft galt seiner Tochter, diese aber, die wie ein Junge aussah, schien so kräftig, daß man unwillkürlich lächelte, wenn man sah, wie fürsorglich ihr Vater immer einen Reserveschalbereithielt, um ihn ihr um die Schultern zu legen. Meine Großmutter machte uns darauf aufmerksam, welch sanfter, zarter, fast schüchterner Ausdruck oft über das Antlitz dieses so derbgebauten Kindes glitt, dessen Haut mit Sommersprossen übersät war. Wenn sie etwas gesagt hatte, dann hörte sie es im Sinne derjenigen, die sie angeredet hatte; sie fürchtete dann die Möglichkeit von Mißverständnissen, und man sah, wie unter dem maskulinen Gesicht des »guten Kerls« die feineren Züge eines betrübten jungen Mädchens aufleuchteten und durchzuschimmern begannen.
    Als ich beim Verlassen der Kirche vor dem Altar die Knie beugte, spürte ich plötzlich, als ich mich wieder erhob, von den Weißdornzweigen her einen bittersüßen Mandelduft und erkannte gleichzeitig auf den Blüten kleine gelbliche Stellen, unter denen ich mir jenen Duft verborgen dachte wie unter den überbackenen Teilen eines Mandelcremetörtchens oder unter ihren Sommersprossen den der Wangen von Mademoiselle Vinteuil. Trotz der schweigenden Unbeweglichkeit des

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