Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
meine Tante sonntags Eulalie so diskret in die Hand drückte, daß Françoise es nie genau sehen konnte. Nicht etwa, daß Françoise das Geld, das meine Tante Eulalie gab, für sich hätte haben wollen. Sie nahmhinreichend an allem teil, was meine Tante besaß, da sie sehr wohl wußte, wie die Reichtümer der Herrin gleichzeitig in aller Augen dem Rang und Ansehen ihrer Dienerin zugute kommen, und daß sie selbst, Françoise, in Combray, Jouy-le-Vicomte und anderen Orten angesehen und ruhmreich dastand durch die zahlreichen Besitzungen meiner Tante, die häuf igen und ausgedehnten Besuche des Pfarrers und die ungewöhnlich hohe Zahl der Flaschen von Vichywasser, die diese konsumierte. Geizig war sie nur für meine Tante selbst; wenn sie deren Vermögen hätte verwalten dürfen, was der Traum ihres Lebens war, hätte sie es in leidenschaftlicher mütterlicher Fürsorge vor jedem fremden Zugriff bewahrt. Sie hätte es an sich nicht so schlimm gefunden, wenn meine Tante, von der sie wußte, daß sie unausrottbar großherzig war, ihrer Neigung zum Geschenkemachen nachgab, wofern sie sie nur Reichen gegenüber betätigt hätte. Vielleicht dachte sie dabei, daß diese Leute, die die Gaben meiner Tante nicht nötig hatten, auch nicht im Verdacht stehen konnten, sie nur deswegen zu lieben. Außerdem schienen ihr vielleicht Geschenke, die an Personen in guter Vermögenslage aus »den gleichen Kreisen« wie meine Tante, an solche, die »zu ihr paßten«, an Madame Sazerat, Monsieur Swann, Monsieur Legrandin, Madame Goupil gewendet wurden, einen Teil der Sitten und Gewohnheiten jenes fremden und glanzvollen Lebens der reichen Leute zu bilden, die auf die Jagd gehen, sich gegenseitig Feste geben, einander Besuche machen, und die sie lächelnd bewunderte. Etwas anderes aber war es, wenn die Nutznießer der Freigebigkeit meiner Tante zu denen gehörten, die Françoise »Leute wie ich selbst, Leute, die nicht mehr sind als ich« nannte und die sie am meisten verachtete, wofern sie sie nicht als »Madame Françoise« anredeten und dadurch zugaben, daß sie »weniger waren« als sie. Wenn sie dann sah,daß meine Tante entgegen ihren Ratschlägen nach ihrem Kopf handelte und ihr Geld – jedenfalls nach Françoises Meinung – an unwürdige Kreaturen vergeudete, so fand sie die Geschenke, die meine Tante ihr selbst machte, recht bescheiden im Vergleich zu den imaginären, etwa an Eulalie gewendeten Beträgen. Es gab in der Umgebung keinen noch so ansehnlichen Bauernhof, von dem Françoise nicht annahm, daß Eulalie ihn leicht mit dem, was ihre Besuche ihr einbrachten, hätte erwerben können. Allerdings schätzte Eulalie die unermeßlichen verborgenen Reichtümer von Françoise in ganz der gleichen Höhe ein. Gewöhnlich, wenn Eulalie gegangen war, machte Françoise sich in dunklen Prophezeiungen Luft, die ohne Wohlwollen waren. Sie haßte, aber fürchtete sie und hielt es für angebracht, in ihrer Gegenwart »gute Miene« zu machen. Dafür äußerte sie sofort nach ihrem Verschwinden sibyllinische Orakel oder Sentenzen so allgemeinen Charakters wie die des Ekklesiastes, wobei jedoch meiner Tante nicht entgehen konnte, auf wen sie gemünzt waren. Nachdem sie sich durch einen Spalt im Vorhang vergewissert hatte, daß Eulalie die Pforte hinter sich geschlossen hatte, sagte sie zum Beispiel: »Leute, die anderen immer schmeicheln, verstehen es, sich beliebt zu machen und ihr Schäfchen ins trokkene zu bringen; aber man muß nur abwarten, der liebe Gott straft sie doch eines Tages«, und das mit einem Seitenblick und der Hinterhältigkeit des Joas, wenn er die einzig auf Athalie gemünzten Worte spricht:
Le bonheur des méchants comme un torrent s’écoule. 1
Wie ein Wildbach zerfließt das Glück des Bösewichts.
Doch wenn der Pfarrer gleichzeitig gekommen war und sein endloser Besuch die Kräfte meiner Tante erschöpfthatte, verließ Françoise gleich nach Eulalie das Zimmer mit den Worten:
»Madame Octave, ich lasse Sie jetzt lieber ruhen, Sie sehen müde aus.«
Meine Tante antwortete lediglich durch einen tiefen Seufzer, der ihr letzter zu sein verhieß; mit geschlossenen Augen lag sie da wie tot. Kaum aber war Françoise unten angelangt, als vier heftige Glockensignale im Hause ertönten und meine Tante, in ihrem Bett aufrecht sitzend, rief:
»Ist Eulalie schon fort? Stellen Sie sich vor, jetzt habe ich vergessen, sie zu fragen, ob Madame Goupil vor der Wandlung in der Kirche war! Schnell, schnell, laufen Sie ihr nach!«
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