Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Françoise kehrte jedoch zurück, ohne Eulalie noch erreicht zu haben.
»Zu dumm«, meinte kopfschüttelnd meine Tante. »Das war das einzig Wichtige, was ich sie fragen wollte!«
So verging das Leben für meine Tante Léonie, immer in ganz der gleichen Weise, das heißt in angenehmer Einförmigkeit und dem, was sie in gespielter nichtachtender Gleichgültigkeit und tiefer Anhänglichkeit als ihren »Alltagstrott« bezeichnete. Von allen sorglich geschont – nicht nur zu Hause, wo jeder einzelne, nachdem er das Bemühen, ihr eine gesündere Lebensweise anzuraten, als zwecklos aufgegeben hatte, sich schließlich damit abfand, ihre Gewohnheiten zu respektieren, sondern auch im Ort, wo drei Straßen von uns entfernt der Packer, bevor er seine Kisten nagelte, Françoise fragte, ob meine Tante auch nicht »ruhe« –, mußte sie doch erleben, daß ihr »Alltagstrott« in diesem Jahr einmal unterbrochen wurde. Wie eine Frucht, die im verborgenen gereift ist, ohne daß jemand es beachtet hat, und auf einmal vom Baum fällt, war eines Nachts die Niederkunft des Küchenmädchens plötzlich da. Siehatte unerträgliche Schmerzen, und da es in Combray keine Hebamme gab, mußte Françoise sich bei Nacht und Nebel aufmachen und eine aus Thiberzy holen. Wegen der Schreie des Mädchens konnte meine Tante nicht ruhen, und Françoise, die trotz der geringen Entfernung erst sehr spät wieder zurück war, fehlte ihr sehr. Daher sagte meine Mutter an diesem Morgen zu mir: »Geh doch hinauf und sieh nach, ob Tante Léonie etwas braucht.« Ich trat in das erste Zimmer ein und sah durch die offene Tür meine Tante schlafend auf der Seite liegen; ich hörte sie halblaut schnarchen. Ganz leise wollte ich mich wieder entfernen, aber offenbar war das Geräusch meiner Schritte in ihren Schlaf eingedrungen und hatte darin eine Art »Gangwechsel« bewirkt, wie man bei Automobilen sagt, denn der Ton ihres Schnarchens setzte einen Augenblick aus und gleich darauf in tieferer Lage wieder ein; dann erwachte sie und wendete ihr Gesicht halb um, so daß ich es sehen konnte; es drückte etwas wie Entsetzen aus; offenbar hatte sie furchtbar geträumt; sie konnte mich von ihrem Blickpunkt aus nicht sehen, und ich stand da und wußte nicht, ob ich gehen oder bleiben sollte; doch sie schien bereits zum Bewußtsein der Wirklichkeit zurückgekehrt zu sein und die trügerischen Visionen, die sie erschreckt hatten, als solche durchschaut zu haben; ein Lächeln der Freude, der frommen Dankbarkeit gegen Gott, der in seiner Güte das Leben weniger grausam als die Träume sein läßt, goß ein schwaches Licht über ihre Züge, und wie gewöhnlich halblaut mit sich selbst redend, da sie sich allein glaubte, sagte sie: »Gott sei gelobt! Das einzige, was uns stört, ist ja dieses Küchenmädchen, das ein Kind bekommt. Da habe ich doch tatsächlich geträumt, mein armer Octave sei auferstanden und wolle absolut, daß ich jeden Tag einen Spaziergang mache!« Sie streckte die Hand nach dem Rosenkranz aus, der aufdem Tischchen neben ihr lag, der Schlaf aber überwältigte sie von neuem und ließ ihr keine Zeit, ihn wirklich zu ergreifen: in Frieden schlummerte sie von neuem ein, ich schlich mich aus dem Zimmer, und kein Mensch – auch sie nicht – hat jemals erfahren, was ich vernommen hatte.
Wenn ich sage, daß der Alltagstrott meiner Tante, abgesehen von sehr seltenen Ereignissen wie eben dieser Niederkunft, unveränderlich feststand, so spreche ich nicht von den regelmäßig wiederkehrenden Abweichungen, die innerhalb der Einförmigkeit eine Art von zweiter Einförmigkeit bildeten. So zum Beispiel fand am Samstag, wenn Françoise nachmittags zum Markt in Roussainville-le-Pin ging, das Mittagessen für alle eine Stunde früher statt. Meine Tante hatte sich so gut an diese allwöchentliche Abweichung von ihren Gewohnheiten gewöhnt, daß sie nunmehr auf diese Gewohnheit wie auf jede andere hielt. Sie war so »gut eingefahren« damit, wie Françoise es nannte, daß, wenn sie etwa eines Samstags bis zum Mittagessen die sonst gewohnte Stunde hätte abwarten sollen, sie das ebensosehr durcheinandergebracht hätte, als wenn sie an anderen Tagen ihre Mahlzeit auf die Samstagsstunde hätte vorverlegen sollen. Dieses vorzeitige Mittagessen gab übrigens dem Samstag in unser aller Augen etwas Besonderes, Gelokkertes und eigentlich Sympathisches. In dem Augenblick, da wir normalerweise noch eine Stunde vor uns hatten bis zu der entspannten Stunde des Mahls, wußte man, daß
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