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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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verlieh. Manchmal genügte ein solches »Schauspiel in einem Bett« 1 meiner Tante noch nicht, sie wollte ihre Stücke richtig aufgeführt sehen. Dann vertraute sie eines Sonntags bei sorgfältig geschlossenen Türen Eulalie ihren Zweifel in bezug auf Françoises Ehrlichkeit an und sprach von ihrer Absicht, sich ihrer zu entledigen; ein anderes Mal aber teilte sie umgekehrt Françoise ihren Argwohn mit, daß Eulalie, die bald bei ihr vergebens anpochen werde, nicht zuverlässig sei; ein paar Tage später war sie gegen ihre Vertraute von gestern eingenommen und mit der Verräterin wieder ein Herz und eine Seele, bis zur nächsten Vorstellung, wo die beiden ihre Rollen von neuem austauschen würden. Das Mißtrauen, das Eulalie ihr einflößen konnte, war aber immer nur ein Strohfeuer, das mangels Nahrung bald wieder in sich zusammensank, denn Eulalie wohnte ja nicht im Haus. Anders war es mit dem Argwohn gegen Françoise, da meine Tante sie ja unaufhörlich unter dem gleichen Dach wußte, ohne daß sie selbst angesichts ihrer Besorgnis, sie könne sich beim Verlassen ihres Bettes erkälten, in die Küche hinunterzugehen und festzustellen wagte, ob ihr Verdacht begründet sei. Ganzallmählich beschäftigte sich ihr Geist mit nichts anderem mehr als damit, zu erraten, was Françoise in jedem Augenblick gerade tun und vor ihr verbergen mochte. Sie stellte die flüchtigsten Veränderungen in deren Mienenspiel fest, den kleinsten Widerspruch in ihren Worten, einen Wunsch, den sie zu verschleiern schien. Mit einem einzigen Wort, das Françoise erbleichen ließ und das der Unglücklichen ins Herz zu bohren meiner Tante offenbar ein grausames Vergnügen bereitete, gab sie ihr dann zu verstehen, daß sie sie durchschaut habe. Am folgenden Sonntag offenbarte ihr dann eine Äußerung Eulalies – ähnlich jenen Entdeckungen, die einer in ausgefahrenen Gleisen sich bewegenden Wissenschaft plötzlich ein unvermutetes Feld erschließen und so zu neuem Leben verhelfen –, daß ihre Vermutungen noch weit hinter der Wahrheit zurückblieben. »Aber Françoise muß es ja wissen, wo Sie ihr jetzt einen Wagen geschenkt haben.« »Ich ihr einen Wagen geschenkt!« rief meine Tante aus. »Ach! Ja, ich weiß nicht, ich meine, ich hätte sie doch im Wagen, stolz wie Artaban 1 , zum Markt nach Roussainville fahren sehen. Ich hatte geglaubt, Madame Octave habe ihn ihr geschenkt.« Allmählich kam es so weit, daß meine Tante und Françoise, wie Jäger und Wild, nur noch unablässig versuchten, eine den Listen der anderen rechtzeitig auf die Spur zu kommen. Meine Mutter befürchtete, es möchte sich in Françoise ein regelrechter Haß auf meine Tante herausbilden, die sie so derb beleidigte, wie es nur möglich war. Auf alle Fälle schenkte Françoise den geringsten Äußerungen und Gesten meiner Tante mehr und mehr eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit. Wenn sie um etwas bitten wollte, zögerte sie lange, wie sie es tun sollte, und wenn sie ihr Anliegen vorgebracht hatte, beobachtete sie heimlich meine Tante genau und versuchte, aus ihrem Mienenspiel zu erraten, was jene denke und wie sie die Frage entscheiden werde.So kam es denn – während mancher Künstler 1 , der Memoirenwerke aus dem 17. Jahrhundert liest, um sich mit dem Sonnenkönig vertrauter zu machen, und sich seinem Ziel zu nähern glaubt, wenn er sich eine Genealogie ausmalt, die ihn von einer historischen Familie abstammen läßt, oder mit einem gegenwärtigen Potentaten Europas einen Briefwechsel unterhält, sich ausgerechnet von dem abwendet, was er fälschlicherweise unter identischen und deshalb toten Formen sucht –, daß eine alte Dame in der Provinz, die einfach blind ihren unwiderstehlichen Wahnvorstellungen und einer aus Untätigkeit entstandenen Bosheit gehorchte, ohne je an Ludwig xiv. gedacht zu haben, die unbedeutendsten Beschäftigungen ihres Tageslaufes – hinsichtlich ihres Aufstehens, ihres Mittagessens, ihrer Ruhe – dank deren despotischer Eigenwilligkeit etwas von dem Interesse dessen annehmen sah, was Saint-Simon den »Mechanismus« des Lebens in Versailles genannt hat, und in gleicher Weise annehmen durfte, daß ihr Schweigen, ein Anflug von guter Laune oder hochmütiger Ablehnung in ihren Zügen, von seiten ihrer Dienerin Françoise der Gegenstand ebenso leidenschaftlicher und angstvoller Kommentare waren wie das Schweigen, die gute Laune oder der Hochmut des Königs, wenn ein Höfling oder selbst einer der wirklich großen Herren ihm in einer Seitenallee

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