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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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geschwächter, manischer Körper noch zu ertragen vermochte. Nicht, daß sie nicht manchmal nach einer größeren Veränderung verlangt und jene Ausnahmestunden gekannt hätte, in denen wir nach etwas anderem als dem Bestehenden lechzen. In solchen Stunden verlangen dann Menschen, die aus Mangel an Energie oder Phantasie nicht imstande sind, den Impuls zur Erneuerung aus sich selbst zu ziehen, von jeder kommenden Minute, von dem Briefträger, der schellt, ihnen Neues zu bringen, und wäre es auch noch so schlimm, eine Aufregung, einen Schmerz; dann möchte das Gefühlsleben, das im Glück verstummt wie eine untätige Harfe, zum Klingen kommen, wäre auch die Hand, die daran rührt, so roh, daß es darunter zerbräche; und der Wille, der sich so mühsam das Recht errungen hat, sich ohne Behinderung seinen Begierden und seinen Leiden hinzugeben, würde dann gerne die Zügel in die Hände von gebieterischen Ereignissen legen, und wären diese noch so grausam. Da die bei der geringsten Ermüdung schon versiegenden Kräfte meiner Tante sich in den Zeiten des Ausruhens immer nur tropfenweise erneuerten, dauerte es zweifellos lange, bis das Reservoir wieder aufgefüllt war, und es vergingen Monate, bis jener leichte Überdruck, den andere Menschen in Tätigkeit ausgeben, wieder bei ihr vorhanden war, ohne daß sie wußte oder sich entscheiden konnte, wie sie ihn verwenden sollte. Ich hege aber keinen Zweifel, daß dann – ebenso wie nach einer gewissen Zeit das Bedürfnis bei ihr aufkam, das täglich wiederkehrende Püree, das sie nie »leid wurde«, durch Béchamelkartoffeln zu ersetzen – aus der langen Häufung einförmiger Tage, auf die sie an sich solchen Wert legte, in ihr eine gewisse Hoffnung auf eine häusliche Katastrophe entstand, die möglichst nur einen Augenblick andauern, aber sie doch zu einer jenerVeränderungen zwingen würde, deren Heilsamkeit sie ahnte, die selbst herbeizuführen sie aber doch sich nicht entschließen konnte. Sie liebte uns wirklich und wahrhaftig, es hätte ihr Genuß bereitet, uns innig zu beweinen; die etwa in einem Augenblick, da sie sich wohlfühlte und nicht an Schweißausbrüchen litt, eintreffende Nachricht, daß das Haus einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen und die ganze Familie dabei umgekommen sei, daß bald kein Stein mehr davon stehen werde, wobei ihr aber noch Zeit bleibe, sich ohne Eile in Sicherheit zu bringen, sofern sie auf der Stelle aufstehe, hat sicher als Möglichkeit in ihren Hoffnungen eine Rolle gespielt, besonders da sich hier zu dem nicht ganz so ins Gewicht fallenden Vorteil, ihre ganze Liebe zu uns in langer Wehmut auszukosten und zum grenzenlosen Staunen des ganzen Dorfes unseren Trauerzug anzuführen – mutig, wenn auch tiefgebeugt, todgeweiht, aber ungebrochen –, noch jener weit verlockendere gesellt hätte, daß sie dann gerade im richtigen Augenblick ohne enervierendes Zaudern den Sommer auf ihrem hübschen Landbesitz Mirougrain hätte verbringen können, wo es einen Wasserfall gab. Da niemals irgendein Ereignis dieser Art eingetreten war, dessen erfolgreichem Ausgang sie sicherlich nachsann, während sie in ihre zahllosen Patiencen vertieft war (und dessen erstes Zeichen der Verwirklichung – irgendeine kleine unvorhersehbare Einzelheit, jenes Wort, das eine schlechte Nachricht einleitet und dessen Klang man nie vergessen kann, all das, was mit der Realität des Todes zu tun hat und so völlig anders ist als seine nur abstrakt gedachte Möglichkeit – sie in Verzweiflung gestürzt hätte), begnügte sie sich, um ihr Leben interessanter zu gestalten, eingebildete Peripetien in ihr Dasein einzuführen, die sie dann mit Leidenschaft ausgestaltete. So machte es ihr Spaß, sich auf einmal vorzustellen, Françoise würde sie bestehlen und siemüsse Listen erfinden, um sie zu überführen. Da bei ihren Kartenspielen daran gewöhnt, gleichzeitig für sich selbst und für ihren Partner zu handeln, brachte sie sich selbst gegenüber die verlegenen Ausreden vor, die Françoise erfand, und antwortete darauf mit so leidenschaftlicher Empörung, daß, wer von uns in solchen Momenten in ihr Zimmer trat, sie schweißgebadet, mit blitzenden Augen und verschobenem falschen Haar antraf, das ihr kahles Haupt entblößte. Françoise hörte womöglich manchmal im Nachbarzimmer beißende Sarkasmen mit an, die ihr selber galten, und deren bloßes Erfinden meine Tante nicht genügend erleichtert hätte, so daß sie ihnen durch halblautes Murmeln erhöhte Wirklichkeit

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