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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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der Post holen ging, nur einige Häuser entfernt, wie er auf einmal links als einsamer Gipfel über der Firstlinie der Dächer erschien, oder ob man einfach auf dem Weg, sich nach dem Befinden von Madame Sazerat zu erkundigen, mit den Augen dieser Linie, die nach dem Abstieg entlang der anderen Dachschräge wieder niedriger geworden war, in dem Bewußtsein folgte, daß man in die zweite Straße nach dem Glockenturm einbiegen müsse; oder sei es, daß mannoch etwas weiterhin, wenn man zum Bahnhof ging, ihn von der Seite her sah, wo er im Profil neue Grate und Flächen entwickelte wie ein Körper, den man überraschend in einer noch unbekannten Phase seiner Umdrehung erblickte; oder ob, von den Ufern der Vivonne her betrachtet, die durch die Perspektive kraftvoll gesammelte und höher gewordene Apsis dem Bestreben des Glockenturms zu entspringen schien, seine Spitze bis ins Herz des Himmels zu treiben … immer mußte man zu ihm zurückkehren, immer war er es, der alles beherrschte, die Häuser mit einer unerwarteten höchsten Zinne versah und nach oben wies wie der Finger Gottes selbst, dessen Leib in der Menschenmenge verschwand, ohne daß ich ihn deshalb mit ihr hätte verwechseln können. Und heute noch, wenn mir in einer großen Provinzstadt oder in einem Stadtviertel von Paris, das ich weniger kenne, ein Passant, der »mir den rechten Weg weist«, in der Ferne als Orientierungspunkt den Uhrturm eines Spitals oder den Glockenturm eines Klosters bezeichnet, der die Spitze seiner geistlichen Mütze an der Ecke einer Straße erhebt, in die ich einbiegen soll, so wird, wofern meine Erinnerung auch nur den geringsten an jene teure entschwundene Gestalt gemahnenden Zug an ihm findet, der Passant, wenn er sich noch einmal umblickt, um sich zu überzeugen, daß ich nicht fehlgegangen bin, mit Staunen bemerken, wie ich in völligem Vergessen des geplanten Spaziergangs oder der dringenden Besorgung stundenlang unbeweglich stehenbleibe, während ich versuche, mich zu erinnern, und spüre, wie tief in mir dem Vergessen abgerungene Gebiete trockengelegt und wieder bebaut werden; und sicherlich suche ich dann immer noch, und weit ungeduldiger, erwartungsvoller als eben noch, da ich ihn um Auskunft bat, meinen Weg, ich biege in eine Straße ein … aber … in eine meines Herzens … 1
    Wenn wir von der Kirche heimgingen, begegneten wir oft Monsieur Legrandin 1 , der, durch seinen Ingenieurberuf an Paris gefesselt, außerhalb der großen Ferien nur von Samstag abend bis Montag morgen seinen Besitz in Combray aufsuchen konnte. Er war einer jener Menschen, die unabhängig von einer naturwissenschaftlich fundierten Laufbahn, in der sie übrigens glänzend vorangekommen sind, eine ganz andere Art von Bildung besitzen, eine literarische und künstlerische, die in ihrem eigentlichen Beruf nutzlos ist, von der aber ihre Konversation profitiert. Gebildeter als viele Literaten (wir wußten damals noch nicht, daß Legrandin einen gewissen Ruf als Schriftsteller genoß, und waren sehr erstaunt festzustellen, daß ein berühmter Komponist Verse von ihm vertont hatte), mit einer leichteren Hand begabt als viele Maler, hängen diese Menschen der Vorstellung nach, das Leben, das sie führen, sei eigentlich nicht das ihnen gemäße, und obliegen ihrer beruflichen Tätigkeit entweder mit einer gewissen launenhaften Sorglosigkeit oder aber mit strengem hochmütigem Fleiß, geringschätzig, bitter, gewissenhaft. Groß, von schöner Gestalt, mit einem nachdenklichen feinen Gesicht, langem blondem Schnurrbart, einem illusionslosen Ausdruck in den blauen Augen, von erlesener Höflichkeit, ein Meister der Konversation, wie wir noch nie einen gehört hatten, war er in den Augen der Meinigen, die ihn immer als Beispiel zitierten, ein typischer Vertreter der Elite, der dem Leben auf die vornehmste und feinsinnigste Weise begegnete. Meine Großmutter warf ihm höchstens vor, er spreche allzu gekonnt, etwas zu hochgestochen, seiner Sprache fehle die Natürlichkeit, die er in seinen immer lose flatternden Lavallièrekrawatten bekundete und in seinem streng geschnittenen Rock, der etwas Schulbubenhaftes hatte. Sie wunderte sich auch über die leidenschaftlichen Tiraden, die er zuweilengegen den Adel losließ, gegen das mondäne Leben, den Snobismus, »sicher die Sünde, die der heilige Paulus meint, wenn er von der Sünde spricht, für die es keine Vergebung gibt«. 1
    Gesellschaftlicher Ehrgeiz war ein Gefühl, das meine Großmutter so unfähig war zu hegen

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