Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)
über viele Jahre habe ich mit großem Vergnügen Italienern zugehört, die mir aus ihrem Leben erzählten und mir ihre Sicht der Geschichte darlegten. Der unvergleichliche Richard Cobb, bei dem ich vor bald 40 Jahren in Oxford studierte, pflegte zu sagen, vieles von der französischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts könne erlaufen, gesehen, gerochen und vor allem gehört werden – in Cafés, in Bussen und auf den Parkbänken von Paris und Lyon, seinen Lieblingsstädten. Dasselbe gilt für Italien: für Neapel im 18. oder Turin im 19. Jahrhundert. Hier, in einem tristen Café am Bahnhof Porta Nuova der Hauptstadt des Piemont, erzählte mir die freundliche, aber bedrückte padrona ausführlich von den Verbrechen der Neapolitaner, um dann seufzend zu resümieren: »Wir verstehen zu arbeiten, aber die verstehen zu leben.« Noch heute sind die Unterschiede zwischen beiden Städten so krass, dass ich mich manchmal wundere, wie sie zum selben Staat gehören können. War es tatsächlich die Bestimmung Neapels, das vor 400 Jahren die zweitgrößte Stadt der Christenheit war, auf den Status einer Regionalhauptstadt wie Bari oder Potenza herabzusinken?
Viel Freundlichkeit begegnete mir in den 35 Jahren, die ich mit italienischen Reisen verbrachte, und ich erhielt eine Menge Anregungen. Meine früheste und vielleicht größte Dankesschuld besteht gegenüber einem älteren toskanischen contadino , der nordwestlich von Lucca ein paar Tagwerk Land mit Weinbergen und Olivenhainen bestellte, die meinen Eltern gehörten. Sein Lohn bestand in einigen Litern trübes Olivenöl und ein paar großen Korbflaschen Rot- und Weißwein, wovon mal der eine, mal der andere Jahrgang ungenießbar war. Zu seiner Verteidigung brachte er zu Recht vor, dass der Wein unbehandelt und frei von Chemie sei. Er arbeitete auch auf anderen Landgütern und beklagte sich über zu viel Arbeit (troppo lavoro) . Dabei fand man ihn oft schon am frühen Nachmittag in der örtlichen Trattoria bei einem caffè corretto , das ist ein Espresso, dermit einem Schuss Grappa oder Vecchia Romagna »korrigiert« ist. Auch gab er zu, nur zweimal im Jahr Wasser zu trinken. Seine politische Einstellung war ziemlich kraus: Er wählte die Christdemokraten, gehörte einer kommunistischen Gewerkschaft an und meinte, Mussolini sei doch ein tüchtiger Kerl gewesen, molto bravo .
Angelo hatte viel Charme und verriet bodenständige Klugheit. Er nahm mich mit zu den Versammlungen des Gemeinderats von Pescaglia, machte mich mit anderen Landarbeitern bekannt (die meisten kamen aus Sardinien) und fuhr mich gelegentlich in das Dorf seiner Vorfahren in den Hügeln oberhalb von Camaiore, wo sein Nachbar, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, Lieder sang, die die Schlacht von Vittorio Veneto gegen die Österreicher 1918 feierten. Er hatte eine hübsche Hündin, einen Schäferhundmischling, und schenkte mir einen ihrer Welpen. Da er aber, was die Vaterschaft betraf, ziemlich achtlos gewesen war, präsentierte er mir ein bezauberndes, aber ziemlich sonderbar aussehendes Geschöpf. La Giulia, wie Angelos Frau allgemein genannt wurde, war eine große, eindrucksvolle Person, die in den Fiat Cinquecento nur hineinpasste, wenn der Beifahrersitz herausgenommen wurde. Sie war eine großartige Köchin vor allem ländlicher Gerichte aus einheimischen Zutaten und bereitete eine feine Polenta zu, die sie auf einem Leinentuch servierte und mit einem Baumwollfaden zerteilte. In den 30 Jahren seit ihrem Tod habe ich vergebens nach einer Polenta dieser Güte gesucht – das mag auch die eine oder andere abschätzige Bemerkung in diesem Buch über den besagten gelben Maisbrei erklären.
Ähnlich ausführlich würde ich gern über andere Freunde und Bekannte – Italiener und Engländer – schreiben, die mir geholfen haben, Italien zu verstehen. Aber ich muss mich auf die Aufzählung der Personen beschränken, denen ich besonders verbunden bin; einige sind leider schon tot: Harold Acton, Giancarlo Aragona, Vernon Bartlett, Tina Battistoni, Boris Biancheri, Gerardo di Bugnano, Giancarlo Carofiglio, Franco Cassano, Cristina Celestini, Rosso Dante, Leglio Deghe’ und seine Frau Susan, Deda Fezzi Price, Bona Frescobaldi, Dino Fruzza, Giuseppe Galasso, Michael Grant, Roberta Higgins, Carlo Knight, Denis Mack Smith, Donatella Manzottu, Roberto Martucci, Gabriele Pantucci, Emanuela Polo, Paolo Rossi, Cintia Rucellai, Steven Runciman, Giuseppe di Sarzana, Ignacio Segorbe und seine Frau Gola, Gaia Servadio,
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