Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)
Neapel einmarschiert, hätten wir heute im Norden den reichsten und zivilisiertesten Staat Europas.« Dann ließ er den Blick über die anderen Gäste im Raum schweifen und fügte mit noch leiserer Stimme hinzu: »Natürlich hätten wir dann im Süden einen Nachbarn wie Ägypten.«
Bald verschlug mich meine Tätigkeit nach Palästina, dann wieder in den Libanon und anschließend nach Spanien, das seine Franco-Ära gerade überwunden
hatte; deshalb konnte ich erst einige Jahre später nach Italien zurückkehren. Ich ging nach Palermo und schrieb eine Biographie über Giuseppe Tomasi di
Lampedusa, den Autor des Romans Der Leopard – oder in neuerer Übersetzung Der Gattopardo. Aber Rossis Worte gingen mir nicht mehr aus dem
Sinn, und ich dachte darüber nach, ob die Einigung Italiens damals ein notwendiges oder auch nur erfolgreiches Unternehmen gewesen war.Rossi hatte das bourbonische Königreich Neapel mit Ägypten verglichen – das konnte ich natürlich nicht billigen, aber manchmal kam mir der Gedanke, ob es den Italienern heute nicht besser ginge, wenn ihr Land in drei, vier oder sogar noch mehr Staaten aufgeteilt wäre. Italiener schienen mir Internationalisten und – in einem guten Sinn – provinziell zu sein, aber nicht nationalistisch, es sei denn, ihre Politiker redeten es ihnen mit mehr oder weniger gewaltsamen Mitteln ein. Jedenfalls ist der Nationalstaat kein Naturgesetz, das weiß das Volk von Kurdistan sehr gut. Und manchmal ist er ein so künstliches Gebilde, dass er, wie etwa Jugoslawien, wieder zerfällt. Im heutigen Europa, in dem es so viele erfolgreiche kleine Nationen gibt, wäre sicher auch Platz für eine blühende Toskana, die im 18. Jahrhundert der vielleicht zivilisierteste Staat Europas war. Oder für ein prosperierendes Venedig, einst eine mächtige Republik mit einer tausendjährigen Geschichte.
Vor ein paar Jahren beschloss ich, in den 20 italienischen Regionen jeweils eine Weile zu leben, um sie mit all ihren Unterschieden zu den anderen Landesteilen kennen zu lernen. Herkömmliche Darstellungen der italienischen Geschichte waren aus einer zentralistischen Perspektive geschrieben, als wäre die Einigung Italiens unausweichlich gewesen. Mich dagegen interessierten die zentrifugalen Tendenzen der Halbinsel, und ich wollte herausbekommen, ob die verspätete Einigung und die Wirrnisse des Nationalstaats tatsächlich zufällige historische Entwicklungen oder nicht vielmehr eine Folge der Vergangenheit und der Geographie Italiens waren – jener Verhältnisse, die nationalistischen Bestrebungen zuwiderlaufen. Ist Italien nicht einfach zu vielgestaltig, um eine erfolgreiche Nation zu sein?
Zuerst wollte ich über das 19. und 20. Jahrhundert schreiben, die Epoche von Lampedusas Roman und seines eigenen Lebens. Aber dann ertappte ich mich dabei, dass ich immer weiter zurückgehen wollte, und dann noch weiter, um zu erkunden, was frühere Generationen über Italien dachten: die Aufklärer, Dante, Machiavelli, Kaiser Augustus, Karl der Große, Friedrich II. – stupor mundi (Das Staunen der Welt) – und Napoleon. Als ich meinem Verleger Stuart Proffitt erzählte, dass auch Cicero eine Vorstellung von Italien hatte, sagte er: »David, geh zurück zu Cicero.« Ich ging zurück zu Cicero und zu Vergil und betrachtete auch die nachfolgenden Epochen. Jede hatte ein ganz eigenes, oft sehr unterschiedliches Bild von Italien. In den ersten Kapiteln dieses Buches erhebe ich nicht den Anspruch, eine Geschichte von 2000 Jahren abzuhandeln, bis schließlich Napoleon Bonaparte 1796 über Italien herfiel und das Land ins Chaos stürzte. Eher biete ich eine chronologische Skizze, mit der ich versuche, die zahllosen Erscheinungsbilder Italiens und die zentrifugalen Tendenzen inseiner Geschichte aufzuspüren und darzulegen, in welcher Form sie auch die jüngere Vergangenheit der Halbinsel prägten.
Eine wissenschaftliche Untersuchung soll es nicht werden. Ich habe mir erlaubt, in der Wahl meiner Themen subjektiv und manchmal vielleicht auch eigenwillig zu sein und Einzelphänomenen unverhältnismäßig viel Raum zu geben, die bestimmte historische Momente oder Epochen in besonderer Weise beleuchten: den mittelalterlichen Fresken in Siena oder den Denkmälern in Turin, den frühen Opern Giuseppe Verdis oder einem Film des marxistischen Regisseurs Bernardo Bertolucci. Dies ist gleichermaßen das Buch eines einfachen Reisenden wie eines Historikers – und es ist auch das Buch eines Zuhörers. Denn
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