Auf der Suche nach Tony McKay
meine Mutter als ich zehn war mit einem US-Soldaten, der bei uns in der Nähe Atomwaffen bewachte, in die USA abgehauen war. Sie schrieb mir manchmal und fragte, ob ich sie nicht mal besuchen kommen wolle. Aber meine Oma, bei der ich wohnte seitdem meine Mutter weg war, hatte nur eine kleine Rente und war selber nie weiter südlich als Pinneberg gewesen, also verflüchtigte sich das alles, und meine Mutter hörte irgendwann auf zu fragen und kurz danach auch zu schreiben.
Jetzt sitzen wir hier gemeinsam am Tisch, zehn Jahre nach unseren Diskussionen über Tony McKay und sein geniales Buch, von dem wir dachten, dass es unser Leben verändern würde, und das ihm für eine kurze Zeit eine Bedeutung gegeben hat, die wohl nur in den labyrinthischen Gedankengebäuden Achtzehnjähriger existiert hat, aber nicht in der grauen Realität eines eher durchschnittlichen Gymnasiums in H.
Seitdem ist die graue Realität wie der neuerdings so penetrante Nebel in die hintersten Winkel des Labyrinths vorgedrungen, hat das Originale, das sich dort durch einen unvorsichtigen Pädagogen eingenistet hatte, ausdifferenziert, und was sich nicht ausdifferenzieren ließ hat es grau übermalt. Aber hat es alles erfasst? Oder ist nicht vielleicht doch ein Rest der Hoffnung auf einen Sinn, auf die große Erklärung, auf das geisteswissenschaftliche Äquivalent der Vereinigung von Quantenphysik und Relativitätstheorie übrig geblieben? Denn warum würden wir vier disparaten Menschen ansonsten an diesem tristen Februarabend hier sitzen, wenn nicht zu der Erinnerung auch tatsächlich noch ein winziger Rest an Besonderem existierte?
‘Also, was feiern wir heute Abend?’ fragt Rosa, als sie sich einschenkt.
‘Ich kann dir sagen, was wir feiern, nämlich dass mein Arsch von Ex-Freund samt meinem Fernseher, DVD-Player, Kaffeemaschine und 300 Euro in bar aus meinem Leben verschwunden ist. Ich weiß nicht, was die anderen feiern, aber das ist, was ich feiere,’ sagt Britta, dreht ihr blondes Haar in einen Dutt und klemmt ihn oben auf dem Kopf fest. Sie blickt leicht alkoholisiert in die Runde, als ob sie Beifall erwartet.
‘Klingt, als ob du froh sein solltest, den los zu sein,’ meint Rosa trocken.
‘Rosa hat recht,’ sagt Heiko, ‘ich habe den Typen nie gemocht. Und außerdem hat der dich doch nur ausgenommen.’
Britta ist sich noch nicht ganz sicher, ob sie den anderen zustimmen soll, oder einen schwachen Versuch starten, ihre kaputte Beziehung zu verteidigen. Sie nimmt einen großen Schluck Wein, wirft den Kopf nach hinten, sagt schließlich ‘Wo du recht hast, hast du Recht!’ und fängt an zu lachen.
‘Könnt ihr das glauben, über ein Jahr lang hab’ ich den Typen mit durchgeschleppt, hab’ ihm eine neue E-Gitarre gekauft, Verstärker, was auch immer er dachte wäre nötig, um seine mülligen kleinen Lieder zu schreiben und zu spielen.’
‘Der war Musiker?’ will Rosa wissen.
‘Musiker, als ob! Der konnte noch weniger den Ton halten, als Heikos Kater!’
Heiko guckt etwas pikiert, was Britta aber völlig ignoriert.
‘Sein Plan war, christlichen Rock ‘n Roll zu machen, aber eben auf Deutsch. Problem ist nur, er kann nicht singen, kann nur ein Instrument spielen, und das auch nur schlecht, und hing die meiste Zeit vorm Fernseher, um Talkshows zu gucken, in denen sich irgendwelcher Pöbel ankeift. Angeblich, um sich Inspirationen zu holen.’
Erstaunlich, wie schnell sich Meinungen ändern. Noch vor einer Woche hielt Britta an gleichem Orte im Brusttone der Überzeugung eine Rede darüber, dass mindestens drei Musiklabels aus den USA, wo christlicher Rock bekanntlich eine Riesensache ist, kurz davor waren, ihm einen Millionenvertrag anzubieten, ja sie hatte schon im Internet nach Mietwohnungen in Malibu gesucht. Heiko und ich hatten da schon so unsere Zweifel, und scheinbar hatte auch Britta selber in einem versteckten Winkel ihres Bewusstseins gewusst, was Sache ist, denn wie ist eine 180 Grad Kehrtwende ansonsten möglich?
Rosa sieht auf ihre Armbanduhr, dann zur Tür. Es ist zwar erst halb elf, aber weitere Gäste heute Abend sind so wahrscheinlich wie lila Brokkoli auf dem Kohlmarkt in H.
‘Noch `ne Flasche?’ fragt sie, ‘heute Abend kommt keiner mehr, da können wir`s uns auch gemütlich machen,’ geht zur Eingangstür und schließt ab. Ich stehe auf und ziehe die staubigen Bordellvorhänge zu, während Rosa eine neue Flasche Rotwein holt.
‘Geht auf’s Haus,’ sagt sie und stellt die
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