Brennnesselsommer (German Edition)
»Ihr könnt mit so vielen befreundet sein«, sagt Fränzi. »Mit Ziegen, Hunden, Eseln, Kaninchen. Natürlich auch mit Menschen. Aber das ist manchmal gar nicht so einfach.«
Fränzi sagt oft Sachen, über die Anja und Flitzi lange nachdenken müssen, und hinterher sind sie auch nicht viel schlauer. Anja ist in diesem Herbst in die dritte Klasse gekommen und hat schon viel gelernt. Aber auf solche Gedanken, die Fränzi hat, kommt in der Schule niemand. Anjas kleine Schwester Flitzi weiß auch schon eine Menge, obwohl sie erst in die Erste geht. Aber auch sie hat manchmal keine Ahnung, wovon Fränzi redet. Fränzi ist eben eine Träumerin, sagen Anjas und Flitzis Eltern.
Vor ein paar Monaten ist sie plötzlich aufgetaucht, morgens um sieben, als Anja gerade Honigbrote aß und Flitzi ihren Turnbeutel suchte. Da rollte durch den Nieselregen ein riesiger Lastwagen direkt an ihrem Küchenfenster vorbei und kam in der großen Pfütze vor dem heruntergekommenen Nachbarhaus zum Stehen. Jemand riss die Fahrertür auf und sprang schwungvoll direkt in die Pfütze. Während Anja und Flitzi noch aus dem Fenster starrten und kicherten und ihre Mutter schon die Butterbrote in die Schulranzen steckte, schüttelte sich der Lastwagenfahrer und trat aus der Pfütze, und dabei sahen sie, dass er lange zottelige Haare hatte.
»Das ist ja eine Frau«, kicherte Flitzi. »Kann die so ein großes Auto fahren?«
»Wieso denn nicht?«, meinte Anja, und gerade wollten sie anfangen, sich wie üblich in die Wolle zu kriegen, da sahen sie, dass plötzlich mehrere Hunde aus dem Lastwagen drängten und sich um die Frau scharten: ein großer struppiger, ein dünner mit glattem Fell und einer, der so klein war, dass sie ihn fast übersehen hätten.
»Was gibt das denn?«, meinte Mama und schob Anja und Flitzi vom Küchenfenster weg, während sie selbst noch einen Blick auf das Grüppchen vor dem Haus warf: die große dünne Frau mit Zottelhaaren und grünen Gummistiefeln bis zu den Knien und um sie herum drei aufgeregt springende Hunde.
Das war Fränzi. Fränzi zog ins Nachbarhaus ein, das eigentlich ein alter Hof war, so verfallen, dass ihn alle im Dorf nur »die Ruine« nannten. Die Ruine war der Schandfleck von Lauterbach, das Dach halb eingestürzt, die Fensterscheiben kaputt, die Wände beschmiert, in der Auffahrt und hinter dem Haus rosteten alte Bettgestelle, zerlöcherte Tonnen und sogar ein ausgeschlachtetes Mofa. Betrunkene pinkelten nachts gegen die Türen, und die Schulkinder, die auf dem Weg zur Bushaltestelle vorbeikamen, klebten Kaugummis an die zerbrochenen Zäune. Überall lagen Glasscherben herum, man konnte nirgendwo hintreten, ohne dass es unter den Schuhen knirschte. Alle hatten schon die Hoffnung aufgegeben, dass jemand die Ruine wieder in Schuss bringen könnte.
»Man sollte das Ding einfach abreißen und etwas schönes Neues hinstellen«, hatte Anjas und Flitzis Papa oft gesagt, und weil er Architekt war und sich jeden Tag Gebäude ausdachte, hatte er auch schon Ideen, was man bauen könnte: bunte Häuser für Familien oder ein Hotel, das gab es auch noch nicht in Lauterbach, obwohl man hier eigentlich gut Ferien machen konnte, ruhig, wie es war. Aber dann kam ja Fränzi.
»Fränzi ist zu dünn«, meint Mama, aber Anja glaubt, das sagt sie nur, weil sie selbst ein paar speckige Bauchfalten hat, die nach Flitzis Geburt einfach nicht mehr weggingen. Sie stören niemanden, aber Mama sind sie ein Dorn im Auge, und jedem, der dünner ist als sie, starrt sie neidisch auf die Hüften. Fränzi ist dünn, aber sie ist auch kräftig und hat sehr große Hände.
»Die braucht sie, weil sie ständig etwas machen muss«, sagt Anja.
»Ich muss auch ständig etwas machen«, erwidert Mama und zeigt ihre Hände, aber Anja will ihre Mutter gar nicht mit Fränzi vergleichen. Die Sachen, die Anjas Mutter erledigen muss, haben mit Fränzis Leben nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Fränzi muss:
– den Schrott aus der Auffahrt räumen
– die Zäune wieder hochziehen
– en Schuppen reparieren
– die Dächer dicht machen
– die Zimmer streichen
– die Außenwände streichen
– Hundefutter besorgen
Anjas Mutter muss:
– in der Bank Kunden beraten
– Geld verdienen
– das Haus in Ordnung halten
– den Garten in Ordnung halten
– die Kinder in Ordnung halten
– Hausaufgaben kontrollieren
– Gymnastik gegen die Speckfalten machen
Das ist wirklich
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