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Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)

Titel: Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Benecke
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würde sie für immer ihr schlechtes Gewissen verfolgen.
    So weit, so »menschlich«. Was tun Sie aber in folgender Situation:
    Sie öffnen eines Morgens die Post und finden einen Brief von einer Hilfsorganisation, die offiziell von der Bundesregierung unterstützt wird. Darin sind Bilder verhungernder Kinder in einem Dritte-Welt-Land zu sehen und umfangreiche Informationen dazu, was die Organisation bezweckt: Sie kümmert sich um die Versorgung von unterernährten Kindern in speziellen Einrichtungen. Die dort aufgenommenen Kinder würden zweifellos sterben, wenn sie diese Hilfe nicht bekämen. In dem Brief werden Sie gebeten, einmalig dreißig Euro zu spenden. Mit diesem Betrag könnte ein Kind mehrere Wochen versorgt werden und würde somit vor dem Hungertod bewahrt. Dem Inhalt des Briefes mit Verweis auf eine Internetseite können Sie entnehmen, dass es sich um keine zwielichtige Organisation handelt. Ihnen wird die Garantie gegeben, dass Ihre Spende ausschließlich für Nahrung in der konkret benannten Einrichtung verwendet werden wird. Die Bundesregierung persönlich bürgt dafür, dass dies streng überwacht wird. Was tun Sie?
    Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Sie, wie die überwiegende Mehrzahl, irgendeine Ausrede erfinden, um nicht zu spenden. Vielleicht sagen Sie sich: Die Bundesregierung gibt doch Geld für so viel Quatsch aus, sollen die doch einen Betrag zur Verfügung stellen, ich bezahle schließlich Steuern. Oder Sie sagen sich: Andere verdienen viel mehr als ich, die sind doch viel eher verpflichtet, da zu spenden. Ausreden gibt es viele. Tatsache ist: Weil Sie sich in Ihre Ausrede flüchten und die Verantwortung »wegschieben«, werden in der Einrichtung dreißig Euro weniger ankommen, sodass ein Kind weniger gerettet werden kann und sterben wird.
    Fühlen Sie sich deshalb schuldig?
    Ich denke, eher nicht.
    Der Sachverhalt ist in beiden Fällen derselbe: Wenn Sie Ihr Geld lieber für sich selbst verwenden, stirbt ein Kind mehr auf der Welt, weil Sie nichts getan haben. Im zweiten Fall ist die Summe, die Sie einsparen, fast lächerlich. Trotzdem werden Sie zugeben: Sehr wahrscheinlich spenden Sie nicht. Der einzige wahre Grund dafür, der nicht eine »Ausrede« – psychologisch gesprochen eine »Rationalisierung« – ist, ist der:
    Im ersten Fall sind die »Kosten« Ihres schlechten Gewissens höher als die »Kosten«, fünfhundert Euro Ihres Geldes zu verlieren. Im zweiten Fall meldet sich Ihr schlechtes Gewissen erst gar nicht, es erzeugt Ihnen also keine »Kosten«. Dreißig Euro Ihres Geldes zu spenden, erzeugt aber »Kosten«, fühlt sich also nicht gut an. Ihr Gefühl entscheidet daher: Nicht zu spenden, fühlt sich hier besser an, also spende ich nicht.
    Warum haben Sie im zweiten Beispiel keine Gewissensbisse? Das liegt am – im Laufe der Menschheitsgeschichte angelegten – »Schlechtes-Gewissen-Programm« des Gehirns. Dieses Programm soll Sie vor allem dazu veranlassen, Menschen in Ihrer unmittelbaren Nähe zu helfen. Es ist eines der »Programme«, das sich über zweihunderttausend Jahre als nützlich für das Leben in der Gruppe erwiesen hat. Wenn ein Mitglied der Gruppe – vor allem ein Kind, also der »Träger« der Gene in die nächste Generation – in Lebensgefahr geriet, war es für alle nützlich, dass es gerettet wurde. So konnten sich alle Gruppenmitglieder grundsätzlich aufeinander verlassen. In dieser bedrohlichen Situation zeitaufwendige, sachliche »Kosten-Nutzen-Überlegungen« anzustellen, wäre weniger nützlich gewesen, weil die Hilfe dann zu spät oder gar nicht gekommen wäre.
    Deshalb hat sich das grundsätzlich angeborene Programm »Rette ein Leben, wenn du kannst, sonst gibt es Schuldgefühle« durchgesetzt. Allerdings war es immer auf Situationen ausgelegt, in denen jemand in unmittelbarer Nähe Hilfe brauchte. Weltweit operierende Hilfsorganisationen hat dieses Programm nicht »abgespeichert«. Daher schaltet es in einem Fall wie dem zweiten auch keine ausreichenden Gefühle ein.
    Weil dieses evolutionäre Gehirnprogramm also noch kein »Update« für die moderne Welt entwickelt hat, treffen Sie manche Entscheidungen – wie im Gedankenexperiment mit der Geldspende – nach derselben Logik wie Psychopathen: Da Ihnen in solchen Situationen kein schlechtes Gewissen »Kosten« erzeugt, entscheidet sich Ihr Gehirn egoistisch. Es erfindet Gründe, warum Sie auch sachlich betrachtet keine Schuld trifft, wenn Sie lieber an sich denken. Damit bleibt Ihr Gewissen

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