Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
wenn du fünf Menschen sterben lässt, als wenn du einen Menschen sterben lässt. Diesen Menschen tötest ja nicht du , sondern die Bahn, die auf jeden Fall jemanden getötet hätte. Es ist die vernünftigste Entscheidung und auch die Entscheidung, bei der die Schuldgefühle am kleinsten sind.
Vermutlich wäre das auch Ihre Entscheidung in diesem Fall. Die nächste Entscheidung, die Sie treffen sollen, wird schwieriger:
Sie sind wieder in fast derselben Situation. Dieses Mal gibt es aber nur ein Gleis vor Ihnen, auf dem die fünf Gleisarbeiter stehen. Sie stehen auf einer Brücke genau über dem Gleis. Vor Ihnen, direkt am Geländer, steht ein auffallend großer und stark übergewichtiger Mann. Da es nur ein Gedankenexperiment ist, nehmen Sie bitte einfach an, dass Folgendes möglich ist: Das Körpergewicht dieses Mannes würde sicher ausreichen, um den Straßenbahnwagen rechtzeitig vor den Bauarbeitern zu stoppen. Sie haben auch die Körperkraft, um diesen Mann, bevor er weiß, wie ihm geschieht, von der Brücke direkt auf die Gleise zu stoßen. Das Ergebnis wäre das gleiche wie im ersten Fall: Ein Mann würde sterben, dafür würden fünf Männer überleben.
Sie haben keine Zeit, um lange nachzudenken. Entscheiden Sie jetzt, was Sie tun.
Diese Fortsetzung des ersten Gedankenexperiments stammt von der US-amerikanischen Philosophin Judith Jarvis Thomson. Hier entscheiden die meisten Menschen, den Mann nicht von der Brücke zu stoßen. Sie finden es zwar schrecklich, dass die fünf Arbeiter sterben werden, aber noch schrecklicher fühlt sich die Vorstellung an, eigenhändig einen anderen Menschen zu töten. Wenn sie den Mann auf der Brücke persönlich töten würden, hätten sie für immer große Schuldgefühle und könnten damit nicht gut leben. Die fünf Gleisarbeiter töten sie ja nicht persönlich, sie verhindern nur nicht, dass die Bahn sie tötet. Fünf Menschen nicht zu retten, erzeugt also weniger Schuldgefühle, als einen Menschen eigenhändig zu töten. Wieder entscheidet das Gefühl, nicht die Vernunft. Völlig sachlich betrachtet ist die Anzahl der Menschenleben, die auf dem Spiel stehen, haargenau dieselbe. Trotzdem sagen die meisten Menschen, dass sie die beiden Situationen sehr unterschiedlich empfinden und dass sie in der zweiten eine andere Entscheidung treffen würden als in der ersten.
Psychopathische Menschen fühlen nur sehr wenig. Deshalb spielen Gefühle für sie bei der Entscheidung in beiden Situationen keine Rolle. Das sieht man auch an ihren Antworten. In beiden Situationen entscheiden die meisten von ihnen, dass es selbstverständlich vernünftig ist, einen Menschen zu opfern, um fünf zu retten. Sie würden also die sachlich betrachtet bessere Entscheidung treffen, nämlich die, bei der der Schaden am kleinsten ist. Ein schlechtes Gewissen belastet sie, egal was sie tun, auf keinen Fall.
Wer ist nun »gut« und wer ist »böse«? Ist der vernünftig entscheidende Psychopath »gut«, weil er in beiden Fällen das tut, was den »Gesamtschaden« am kleinsten hält? Ist der normal fühlende Mensch – also wahrscheinlich auch Sie – »böse«, weil er, nur um sein Schuldgefühl möglichst gering zu halten, entscheidet, nicht einzugreifen? Seine Entscheidung auf der Brücke bedeutet immerhin, dass mehr Menschen sterben, als notwendig gewesen wäre.
Vielleicht haben Sie wie die meisten Menschen bisher geglaubt, dass ihr Empfinden für »gut« und »böse« auf vernünftigen Einsichten beruht. Einem anderen Menschen zu schaden ist böse, weil Sie auch nicht wollen würden, dass Ihnen ein anderer schadet. Aber das Gedankenexperiment eben hat gezeigt, dass Ihr Gewissen nicht immer »vernünftig« ist. Es gibt keinen sachlichen, vernünftigen Grund dafür, warum Sie auf der Brücke anders entscheiden würden als beim Umstellen der Weiche. Der Grund dafür, dass die meisten normalen Menschen den Mann nicht von der Brücke stoßen würden, liegt in ihrem unwillkürlichen Gefühl. Dieses Gefühl wird nicht durch Vernunft gesteuert. Wodurch also dann?
Um das herauszufinden, führten der Psychologe Joshua Greene und später auch die Psychologin Andrea L. Glenn beide das eben geschilderte Gedankenexperiment mit Menschen durch, während diese in einem Kernspintomographen lagen. Das ist ein medizinisches Gerät in Form einer großen Röhre. Liegt ein Mensch darin, kann der Wissenschaftler auf einem Bildschirm sehen, welche Bereiche seines Gehirns er gerade benutzt und welche nicht. Auf diese
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