Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Weise wurden die Gehirne von normal fühlenden Menschen mit denen psychopathischer Menschen verglichen, während sie über das Gedankenexperiment nachdachten.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen erklärten, warum das Gewissen normaler Menschen nicht immer die vernünftigste Entscheidung trifft. Im ersten Teil des Versuchs lief in den Gehirnen von Psychopathen und normalen Menschen noch dasselbe ab. Während sie über die Entscheidung nachdachten, nutzten beide die Teile ihres Gehirns, die für vernünftige Entscheidungen und das Lösen von Problemen zuständig sind. Diese Gehirnteile wiegen Kosten und Nutzen einer Entscheidung ab. Fünf tote Menschen sind mehr »Kosten« als ein toter Mensch. Der Aufwand, eine Weiche umzustellen, ist wiederum gering. Damit ist die Entscheidung einfach: Einen Menschen opfern, um fünf zu retten, ist die beste Lösung.
Im zweiten Teil des Versuchs taten die Gehirne von Psychopathen aber etwas anderes als die der normalen Menschen. Psychopathen »benutzten« bei der Entscheidung auf der Brücke genau dieselben sachlichen, lösungsorientierten Gehirnteile wie bei der Entscheidung mit der Weichenumstellung. Das bedeutet, ihr Gehirn suchte die vernünftigste Lösung und entschied wieder, dass fünf tote Menschen schlechter sind als ein toter Mensch. Damit war für das psychopathische Gehirn klar, dass in diesem Fall einen Mann von der Brücke zu stoßen eigentlich auch nichts anderes ist, als eine Weiche umzustellen, durch die ein Mann stirbt.
Gehirne normaler Menschen taten in der Brückensituation etwas ganz anderes. Bei der Vorstellung, den Mann zu stoßen und damit praktisch von eigener Hand zu töten, schalteten sich bei normalen Menschen sofort Gehirnteile ein, die für starke Gefühle und die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, zuständig sind. Daher wählte das »normale« Gehirn nicht wie im ersten Teil die vernünftigste Entscheidung. Stattdessen sendete es starke Emotionen aus, wie Mitgefühl und Schuldgefühle. Diese Gefühle machen die Vorstellung, den Mann persönlich zu töten, so unerträglich, dass die meisten normalen Menschen es nicht einmal im Gedankenexperiment tun.
Sie würden nie egoistisch wie ein gewissenloser Psychopath handeln?
– Warum tun Sie es dann?
Vielleicht denken Sie jetzt: Zum Glück ist die Wahrscheinlichkeit nicht sehr groß, dass ich jemals in Wirklichkeit eine solche Entscheidung treffen muss. Da haben Sie sicherlich recht. Das macht die Tatsache, dass Sie schon im Gedankenspiel wegen Ihrer Gefühle die – sachlich betrachtet – unvernünftige Entscheidung treffen würden, aber nicht besser.
Ein noch perfideres Gedankenexperiment entwickelte der Philosoph Peter Singer. Ich möchte mit Ihnen eine kleine Weiterentwicklung dieses Experimentes durchführen. Denken Sie bitte über folgende Situation nach, in der es nicht darum geht, auf den Tod eines anderen Menschen Einfluss zu nehmen, sondern »nur« darum, ein Leben zu retten:
Sie haben sich vor wenigen Tagen ein paar schicke italienische Schuhe aus Leder für eine Feier gekauft, die Ihnen sehr viel bedeutet. Die Schuhe haben fünfhundert Euro gekostet. So eine Investition tätigen Sie natürlich nur einmal im Leben, aber Sie wollen die Schuhe ja auch ausschließlich zu besonderen Anlässen tragen. Zu Fuß machen Sie sich auf den Weg zu der Feier. Die Sonne scheint und Sie kommen durch einen kleinen Wald, in dem ein See liegt. Plötzlich hören Sie Kinderschreie. Als Sie in die Richtung schauen, aus der die Schreie kommen, sehen Sie im See – nicht allzu weit entfernt – einen etwa sechsjährigen Jungen. Er schreit panisch und schlägt mit den Armen um sich. Offenbar ist er alleine in den See geschwommen und hat einen Krampf im Bein. Sie schauen sich hektisch um, aber weit und breit ist niemand außer Ihnen und dem Jungen. Ihnen wird klar, dass das Leben des Jungen in Gefahr ist und er jeden Moment ganz unterzugehen droht. Wieder haben Sie keine Zeit, um lange nachzudenken und auch nicht, um Ihre fest geschnürten neuen Lederschuhe auszuziehen. Was tun Sie?
Viele Menschen antworten hier, dass sie sofort in den See springen würden, um den Jungen zu retten, auch wenn ihre teuren Schuhe danach unwiderruflich hinüber wären. Ihr Gefühl für Richtig und Falsch fällt die Entscheidung. Das Leben des Kindes ist wertvoller als die teuren Schuhe. Umgekehrt gesagt: Sie könnten sich an den schönen Schuhen nicht mehr erfreuen, wenn sie wegen dieser das Kind sterben lassen. Dann
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