Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
von beiden mehr mit einer Straftat aufgefallen.
Ebenso verbrachte auch Nathan Leopold, der seinen Freund und Komplizen Richard durch einen Mord im Gefängnis verloren hatte, seine letzten dreizehn Lebensjahre in Freiheit. Nach 33 Jahren in Haft wurde er 54-jährig auf Bewährung entlassen. Er zog nach Puerto Rico, wo er eine Witwe heiratete und in einem Krankenhaus als Labor- und Röntgenassistent arbeitete. Er wurde Mitglied der »Naturhistorischen Gesellschaft« seiner neuen Heimatstadt, ging wieder seiner alten Leidenschaft, der Vogelkunde, nach und veröffentlichte ein Handbuch der Vögel auf Puerto Rico und benachbarten Inseln. Mit 66 Jahren starb er an einem Herzinfarkt.
Feuer aus Hass, Liebe und Angst in einem Herz aus Eis
– Eine Gefühlsalarmanlage außer Kontrolle
Auf den ersten Blick ebenso kaltblütig wie die »Teufelsadvokaten« wurde der Mafia-Serienmörder Richard Kuklinski zum Täter. Über zweihundert Menschen – er räumte nur Morde an Männern ein, da er Morde an Frauen und Kindern als »unangemessen« empfand – tötete der »Eismann«. In späteren Interviews während seiner Haft sagte Kuklinski, es hätte ihn selbst erstaunt, dass er niemals Angst oder Mitleid oder Entsetzen empfunden habe. Selbst dann nicht, wenn er seine Opfer auf grauenvolle Art tötete – sie beispielsweise lebendig an Wildratten verfütterte – oder wenn seine Opfer eigentlich Freunde waren, die zum Risiko geworden waren.
Einem Buchautor, mit dem er später im Gefängnis sprach, sagte er, er habe sich einige Male selbst gedrehte Videos angeschaut, auf denen er Menschen qualvoll an Ratten verfütterte. Dabei habe er über sich nachgedacht: »Ich begann mich zu fragen: Warum berührt mich all dies nicht? Warum beunruhigt mich das überhaupt nicht? Was ich dann tat, war: Ich begann, mich auf eine Art selbst zu analysieren, während ich mir diese Videos anschaute.« Der Autor fragte Kuklinski: »Bist du zu einem Ergebnis gekommen?« Kuklinski antwortete: »Ja, ich kam zu einem Ergebnis. Ich habe entschieden, dass ich Hilfe bräuchte. Ich bräuchte psychiatrische Hilfe oder Medikamente. Und was soll ich jetzt tun? Soll ich zu einem Psychiater gehen und ihm sagen, dass es mir gefällt, Menschen zu töten?« Das tat er natürlich nicht.
Doch die Interviews mit Kuklinski – ebenso wie mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern – zeigen, dass er alles andere als ein völlig gefühlskalter Mann war. Das Leben der durch die Auftragsmorde zu Wohlstand gekommenen Familie erschien allen, die sie kannten, wie der Wirklichkeit gewordene »amerikanische Traum«. Hinter den vier Wänden des trauten Heims tat sich allerdings eine Hölle auf, deren unantastbarer Herrscher Kuklinski war. Immer wieder hatte er heftige Wutausbrüche, schlug brutal seine Frau Barbara und – wenn auch weniger häufig – seine Kinder.
Dies war eine der wenigen Sachen, die Kuklinski zumindest kurzfristig bedauerte. In einem Interview sagte er: »Ich wollte ihnen die guten Seiten des Lebens zeigen, nicht die schlechten.« Doch dazu war er nicht imstande. Als seine Töchter Jugendliche waren, sagte er ihnen, sollte er ihre Mutter irgendwann in einem Wutausbruch töten, so müsse er auch sie beseitigen – auch wenn ihm dies nicht so leicht fallen würde. Zwar wussten seine Angehörigen nicht, was er »beruflich« tat, doch als sie es erfuhren, waren sie nicht übermäßig schockiert. Die Angst der Familie ging so weit, dass seine Frau und eine seiner Töchter planten, ihn zu vergiften. Sie setzten diesen Plan nie um, weil sie zu Recht fürchteten, er könnte dahinterkommen und sie deshalb sofort töten.
Das Tragische an Richard Kuklinski war, dass er seine Wut, obwohl er dies im Gegensatz zu all seinen Morden nicht wollte, auch gegen jene Menschen richtete, für die er in der Tat etwas empfand. Etwas, das Liebe sehr ähnlich ist, wenn man zwei Dinge berücksichtigt: Erstens, dass er wie alle stark ausgeprägten Psychopathen jene, die er zu lieben glaubte, nie wirklich anders wahrnehmen konnte denn als wertvolle »Dinge«, die sein Besitz sein mussten. Zweitens, dass es für einen Menschen wie Kuklinski Liebe nie ohne Angst und Angst nie ohne Wut und Aggression geben kann. Kuklinski zeigte in dieser Hinsicht auch ein typisches Merkmal des Borderliners: die übermächtige Angst, von jenen verletzt und verlassen zu werden, die ihm am meisten bedeuteten. Diese Angst und daraus erwachsende Wut war für ihn nicht zu kontrollieren.
Die Wurzeln dieses Übels
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