Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
Traumprinz. Ein Mann, der seine mörderischen Absichten hinter einer harmlos-charmanten Maske verbirgt.
Ein Einzelfall? Keineswegs.
Mir wurde schon während meiner Ausbildung zur Kriminalpsychologin vor Augen geführt, dass vielen Menschen nicht anzusehen ist, welche Verbrechen sie verüben wollen oder werden – oder verübt haben. Ich machte damals ein Praktikum in einem Gefängnis. Eines Tages stand ich im Büro der Psychologin dem ersten Täter gegenüber, mit dem ich intensiver zu tun haben sollte. Der Mann hatte ein nettes Lächeln, er wirkte freundlich und ruhig.
Ich kannte auch seine andere Seite. Ich hatte ausführlich seine Akte gelesen, hatte die Bilder von der Leiche seiner Frau im Kofferraum gesehen. Mit der Hand, die ich gerade schüttelte, hatte er dieser Frau ein Kissen aufs Gesicht gedrückt, mindestens zwei Minuten, bis sie tot war. Anschließend hatte er ihre Leiche in Decken und Mülltüten verpackt und aus dem Haus geschafft, bevor die Kinder etwas entdeckten.
Er war bei der Tat in einem gefühlsmäßigen Ausnahmezustand gewesen. Kein Psychopath, sondern ein typischer »Beziehungstäter«, der seine Frau spontan nach einer langen Ehekrise getötet hatte. Jetzt war ihm nichts davon anzumerken.
Dass ich mich inzwischen beruflich mit solchen Menschen befasste, war kein Zufall. Der Keim für diese Entwicklung wurde bereits in meiner Kindheit gelegt. Ich war gerade elf, da hatte ich meine erste Begegnung mit Hannibal Lecter.
»Das Schweigen der Lämmer« ist sicherlich kein Film, den ich Eltern als Empfehlung für ihre Kinder an die Hand geben würde. Altersbeschränkungen bei Filmen bestehen aus gutem Grund, und »Das Schweigen der Lämmer« ist starker Tobak, vor dem man Kinder prinzipiell schützen sollte. Doch in meiner Kindheit war einiges anders als bei anderen.
Meine Mutter war alleinerziehend und noch vor dem Zusammenbruch des Kommunismus in den achtziger Jahren mit mir aus Polen geflohen. Damals war ich noch keine fünf Jahre alt. Nach Monaten in Auffanglagern und Ausländerheimen zogen wir in eine Sozialwohnung im »Ghetto« einer Ruhrgebietsstadt. Das Geld war ständig knapp, meine Mutter besuchte Sprachkurse, machte ihren Führerschein und arbeitete rund um die Uhr. Ich verbrachte meine Freizeit bei meinen alten, mit sich selbst beschäftigten Großeltern und hatte anstelle einer »heilen Familie« etwas, was mir bis heute sehr wertvoll ist: sehr viel Freiheit in den Dingen, die ich tun und mit denen ich mich beschäftigen wollte.
Mein Großvater kaufte täglich die »Bild«-Zeitung – seine Deutschkenntnisse beschränkten sich auf das, was er im Zweiten Weltkrieg als Soldat gelernt hatte, und reichten aus, um den Inhalt zu verstehen. So kam auch ich schon in der Grundschule an meine ersten Artikel über Kriminalfälle. Die Lektüre ersetzte mir wohl das, was für andere Kinder »Grimms Märchen« sind. Schon damals erschien mir die Wirklichkeit wesentlich spannender als ausgedachte Geschichten. Die »Bild«-Artikel fand ich so interessant, dass ich sie in einem Heftordner sammelte. Dabei fiel mir ein Grundprinzip auf, das mich bis heute bei Kriminalfällen fasziniert: Sie sind nur selten wirklich einmalig. Ob Vergewaltigungen, Kindermorde, Beziehungstaten zwischen Partnern oder Serienmorde – die Medien berichten immer wieder von ähnlichen Fällen.
Abgesehen von den »Bild«-Artikeln archivierte ich auch Fernsehberichte über Kriminalfälle. Jede Woche suchte ich aus der Fernsehzeitung alle Sendungen und Filme heraus, die von Kriminalfällen handelten. Dann nahm ich sie mit unserem größten Luxusgut, einem VHS-Videorecorder, auf. Das hatte auch den Vorteil, dass ich Filme, die nachts liefen, ungestört nachmittags nach der Schule schauen konnte. Die Leercassetten kaufte ich von meinem Taschengeld. So entstand eine Sammlung mit Reportagen und Filmen zu allen denkbaren Verbrechen und anderen Schreckenstaten. Dazu kamen Bücher über echte Kriminalfälle, die mir mehr Informationen lieferten, als es das Fernsehen konnte.
Natürlich blieb das alles nicht lange vor meiner Mutter verborgen. Doch sie fand keinen triftigen Grund, mir dieses eher ungewöhnliche Hobby zu verbieten. Es verursachte mir ja keine Albträume oder Ängste. Stattdessen erklärte ich ihr, dass ich verstehen wolle, warum Täter das tun, was sie tun. So saß ich lieber zu Hause und beschäftigte mich mit meinem »Kriminalarchiv«, als mit anderen Kindern zu spielen. Letztlich konnte meine Mutter mir auch keine
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